Das was ihr gerade in den Händen haltet (schaukelt), ist der erste Ausdruck einer langgehegten Idee, nämlich jedes Jahr eine ila-Ausgabe einer lateinamerikanischen Großstadt zu widmen. Die Vorstellungen vieler Leute von Lateinamerika – und wir können uns da leider gar nicht ausschließen – sind nach wie vor durch viele Klischees geprägt. Wenn die Solidaritätsgruppen auch dazu beigetragen haben, bestimmte rassistische und eurozentristische Stereotypen abzubauen, die oft als vulgäre Erklärungsmuster für Armut und Unterentwicklung angeführt wurden bzw. werden, haben wir durch unsere Arbeit andererseits auch wieder dazu beigetragen, neue Klischees und Stereotypen zu verbreiten. Dadurch, daß wir soziale Probleme und Ungerechtigkeiten in den Mittelpunkt unserer Aufklärungsarbeit gestellt haben, ist gerade bei InternationalistInnen ein Bild Lateinamerikas und seiner EinwohnerInnen entstanden, daß sie oftmals auf ihre sozialen und ökonomischen Probleme reduziert. Bei der Vorstellung lateinamerikanischer Städte haben viele Leute dann nur die Assoziationen Straßenkinder, Elendsviertel, Kriminalität, ökologische Probleme im Kopf. Wiewohl alle diese Phänomene in fast jeder lateinamerikanischen Großstadt – in unterschiedlichem Maße – existieren, ist jede Stadt natürlich weitaus mehr: nämlich ein pulsierender, mitunter faszinierender Lebensraum für viele Menschen mit einem jeweils ganz eigenen Gepräge, einer vielschichtigen Alltags- und Freizeitkultur und einer meist eigenständigen und lebendigen Kulturszene.
Die lateinamerikanischen Großstädte weisen im Vergleich zu anderen Regionen der Erde den raschesten Monopolisierungsprozeß auf, so leben im Großraum von Buenos Aires oder in Santiago heute etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung Argentiniens bzw. Chiles.
Diese Konzentration von Menschen der unterschiedlichsten Subkulturen wirft eine Reihe nicht zu unterschätzender Probleme auf, und dennoch ist es gerade diese kulturelle, aber auch politische Vielfalt, die sie so faszinierend und anziehend macht; nicht nur für uns Außenstehende, auch innerhalb des Landes existieren die lateinamerikanischen Großstädte weiterhin als Projektionsfläche, als Mythos.
Mit diesem Heft wollen wir versuchen, diesen Mythen mit wirklichen „Gesichtern“ und wahren Geschichten zu begegnen, mit denen die Vielfältigkeit einer lateinamerikanischen Metropole deutlich werden kann. Die Probleme sollen keineswegs unterschlagen werden, sondern natürlich auch angemessen thematisiert werden, aber eben im Rahmen der vielen anderen Gesichter. Auf diese Weise soll eine Collage entstehen, die ermuntern soll, eigene Bilder und Stereotypen in Frage zu stellen.
Den Anfang macht Buenos Aires, nach Mexico-Stadt und São Paulo die drittgrößte Stadt Lateinamerikas mit etwa 4 Mio. EinwohnerInnen im inneren und 13 Mio. im äußeren Stadtkreis. Als Hauptstadt und kultureller wie politischer Wasserkopf dominiert sie in jeder Hinsicht das übrige Argentinien. Argentinien wird mit Buenos Aires identifiziert und Buenos Aires mit Argentinien, und selbstverständlich beanspruchen die Porteños/as, die BewohnerInnen von Buenos Aires, immer für ganz Argentinien zu sprechen, wenn sie über ihre Stadt reden. (Das ging sogar einigen unserer AutorInnen so!)
Buenos Aires ist wie kaum eine andere Stadt der Welt – ausgenommen vielleicht New York – durch die ImmigrantInnen geprägt. EinwanderInnen aus Italien, Spanien (v.a. Galizien), Polen, Deutschland, dem Libanon, Syrien und Juden und Jüdinnen aus Mittel- und Osteuropa und in den letzten Jahrzehnten aus Bolivien, Chile, Paraguay und Uruguay sind in diese Stadt gekommen und haben ihr ein eigenes unverwechselbares Gepräge gegeben.
Fast alle AutorInnen dieser Ausgabe sind MigrantInnen in der einen oder anderen Richtung, seien es ArgentinierInnen, die in Deutschland leben bzw. lebten wie Esther Andradi, Osvaldo Bayer, Liza Cavani und Roberto Frankenthal, oder Deutsche bzw. Österreicher, die in Buenos Aires leben wie Alfredo Bauer, Jutta Marx und Viktor Sukup. Durch ihre Lebenswege wurden sie – fast alle gehören seit Jahren zum MitarbeiterInnenstamm der ila – zu ständigen Übermittlern von Bildern und Informationen im Interesse der Herstellung einer solidarischen Öffentlichkeit mit Lateinamerika.
P.S. Unsere LeserInnen und vor allem wir haben jetzt einen Monat wohlverdiente ila-Pause. Im August erscheint keine ila, aber im September sind wir wieder da, mit einem ganz umfangreichen Schwerpunkt zur Politik und Literatur Brasiliens.