Zwei Ereignisse werden Brasilien in diesem Herbst (gemeint ist natürlich „unser“ Herbst!) eine gewisse Aufmerksamkeit in den bundesdeutschen Medien verschaffen: die Präsidentschaftswahlen, deren erster Wahlgang am 3. Oktober stattfindet, und der Brasilien-Schwerpunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.
Für die BrasilianerInnen sind selbstredend die Präsidentschaftswahlen das wichtigere Ereignis. Nicht etwa, weil Präsidentschaftswahlen grundsätzlich wichtig wären, sondern weil es in Brasilien tatsächlich etwas zu wählen gibt: Nach den derzeitigen Meinungsumfragen zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Lula, dem Kandidaten der linken Arbeiterpartei PT, und dem gewendeten ehemaligen Dependenztheoretiker Fernando Henrique Cardoso ab, der sich heute als neoliberaler Modernisierer präsentiert.
Ein Wahlsieg Lulas und der PT, deren Entwicklung die ila seit der Gründung der Partei mit großer Sympathie verfolgt hat, würde sicherlich keine revolutionären Veränderungen bringen – dafür sind die politischen Spielräume im heutigen Brasilien zu klein. Aber er böte die historische Chance, eine Reihe überfälliger Sozial- und Wirtschaftsreformen umzusetzen. Damit könnte sich die Lage all jener in Brasilien verbessern, für die bei Fortsetzung der bisherigen Politik schon bei bei ihrer Geburt klar ist, daß sie keine Chance haben werden.
Natürlich bietet der Brasilien-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse auch Chancen, dem hier herrschenden Klischee von fröhlichen und fußballverrückten Menschen, die immerzu Samba tanzen, ein differenziertes Brasilien-Bild entgegenzusetzen. Ob allerdings diese ausgeleierten Brasilienklischees im Herbst wirklich auf dem Müll landen werden, ist fraglich. Es steht zu befürchten, daß sich die KritikerInnen – wie alle Jahre wieder – an wenigen „großen Namen“ abarbeiten und kaum über die Ränder des gängigen Familienfotos hinausschauen werden. Und wenn Jorge Amado tatsächlich zu dem Vertreter brasilianischer Literatur werden soll, werden sinnliche Mulattinnen unweigerlich wieder zum Inbegriff von Brasilianität schlechthin. Dazu eine Ausstellung zur afrobrasilianischen Religiosität und eine über den Federschmuck der Indianer – und schon ist das Abziehbild komplett. Das offizielle Brasilien, der Börsenverein und andere Unternehmerverbände werden aufatmen: Wer denkt bei all der Farbenpracht noch an investitionshemmende Straßenkinder, Pistoleiros und Landbesetzer?
Denjenigen, die sich nicht damit zufrieden geben wollen, sei nach einer Lektüre über Chancen und Inhalte eines politischen Neuanfangs nach den Wahlen ein alternativer Rundgang durch die brasilianische Literaturlandschaft angeboten. Begonnen werden kann dieser Rundgang an jedem beliebigen Punkt, nur sollte kein Punkt ausgelassen werden: Unser Panorama reicht von Literatur von Frauen und Schwarzer Literatur bis zu Texten über die Theaterszene, Kinderliteratur und Emigration nach und aus Brasilien – Aspekte, die in der offiziellen Medienbegleitung allesamt nur unterbelichtet zur Darstellung kommen werden. Dazu gibt es sechs belletristische Texte in deutscher Erstveröffentlichung. Viel Spaß und schönen Herbst!
PS. Leider hat dieses umfangreiche Heft nicht nur sehr viel zusätzliche (unbezahlte) Arbeit bedeutet, sondern wegen des erhöhten Seitenumfangs auch viel mehr gekostet als eine „normale“ ila-Ausgabe. Diese Ausgabe ist mit rund DM 2000,- unterfinanziert. Wer spenden mag, ist herzlich aufgerufen, dies auch zu tun – vielen Dank!