Diese Ausgabe der ila fällt aus dem Rahmen. Sie hat keinen Schwerpunkt, in dem unterschiedliche AutorInnen verschiedene Aspekte eines Themas behandeln. Diesmal gibt es nur einen einzigen Autor, der den gesamten Schwerpunkt geschrieben und auch selbst gestaltet hat: Andreas Salomon, Fotograf und Mitarbeiter der Hamburger Uruguay-Gruppe, hat sich aufgemacht, um in der uruguayischen Kleinstadt Fray Bentos die Geschichten der Menschen zu sammeln, die dort bei einem multinationalen Unternehmen für den Wohlstand und den Konsum des Nordens gearbeitet haben. Ihn interessierten dabei die Strukturen und Mechanismen der Ausbeutung, aber auch die Schicksale und der Widerstand der Menschen, die durch ihre Arbeit den Reichtum geschaffen haben.
Der besagte Betrieb in Fray Bentos war ein Schlachthof, anderswo in Lateinamerika waren und sind es Kaffee- und Bananenplantagen, Gewächshäuser, Bergwerke, industrielle Montagebetriebe… Allen gemein ist, daß Menschen dort für Hungerlöhne unter schlechten, gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen ihre harte Arbeit verrichten und Dinge produzieren, die anderswo konsumiert werden. Die so lange produzieren und ihre Gesundheit ruinieren, bis irgendwo in einer Konzernzentrale, einer Warenbörse oder einer Wirtschaftsinstitution entschieden wird, daß dieser Betrieb dichtgemacht bzw. die Einfuhr des entsprechenden Produktes beschränkt wird, was dann ebenfalls Massenentlassungen und Betriebsschließungen bedeutet, so etwa im Falle der Zinnminen von Siglo XX in Bolivien (vgl. ila 175) oder eben dem Schlachthof von Fray Bentos in Uruguay.
Überall gab es und gibt es aber auch Menschen, die sich mit diesen Bedingungen nicht abfinden, die beginnen, sich und ihre KollegInnen gewerkschaftlich zu organisieren, um für ein menschenwürdigeres Leben zu kämpfen. Diese Kämpfe bedeuten oft große Opfer für die Beteiligten, die aktivsten KollegInnen werden oft genug Zielscheiben unternehmerischer und staatlicher Repression. Entlassungen, Einschüchterungen, Mißhandlungen, Inhaftierungen und sogar Ermordung aktiver GewerkschafterInnen waren und sind in Lateinamerika an der Tagesordnung. Und oft sind die Kämpfe auch erfolglos, es können keine Verbesserungen durchgesetzt werden, oder die letzten Gefechte, d.h. die Kämpfe gegen die Schließung von Unternehmensstandorten, werden verloren.
Alles bisher Gesagte gilt für die Kleinstadt Fray Bentos, wo zwischen 1865 und 1978 in einem riesigen Schlachthof Rinder geschlachtet und zu Fleischextrakt, Corned Beef und anderen Produkten weiterverarbeitet wurden. In dem Schlachthof waren zeitweilig 1500 ArbeiterInnen beschäftigt, manche Familien arbeiteten über Generationen im Schlachthof, litten unter den schlechten Arbeitsbedingungen und kämpften für soziale Verbesserungen. Seit 1978 liegt die Produktion still, der Ort verarmt, die jüngeren Menschen ziehen weg – aber viele Menschen sind noch da und mit ihnen ihre Erfahrungen und Geschichten. Andreas Salomon hat mit diesen Leute gesprochen, mit seinem Kassettenrecorder ihre Geschichten und mit seiner Kamera die Menschen und den Schlachthof festgehalten. Er lädt uns auf den ersten 28 Seiten dieser Ausgabe ein, den Geschichten zu lauschen und die dazugehörenden Bilder zu betrachten.
Diese Ausgabe erscheint in Zusammenarbeit mit der Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die die Recherchereise finanzierte und es durch einen Zuschuß ermöglichte, daß diese Ausgabe in besserer Druckqualität und auf besonderem Papier erscheint, damit die Fotos ihre Wirkung voll entfalten können.
P.S.: Wegen der Zuspitzung der Lage in Haiti haben wir ein ila-extra zu Haiti zusammengestellt, das dieser Ausgabe beigeheftet ist. Wir bitten alle LeserInnen, die an der Herstellung einer solidarischen Öffentlichkeit für die Volksbewegung und die legitime Regierung Haitis interessiert sind, dieses Faltblatt in ihrem Umfeld zu verbreiten. Die Faltblätter können für einen Unkostenbeitrag von 10,- (in bar oder in Briefmarken) für jeweils 30 Exemplare bei der ila bestellt werden.