Karibik: Traumziel für die einen, Alptraum, dem es zu entrinnen gilt, für die anderen. Auf jeden Fall Experimentierfeld verschiedenster Interessengruppen, die sich unter Aufbietung aller möglichen Praktiken die Schätze der Region zu eigen machten. Ort vielfältiger Genozide und willkürlicher demographischer Neuordnungen. Verpflanzter Schauplatz afrikanischer Riten, Religionen und synkretistischer Neuschöpfungen, Tummelplatz sämtlicher europäischer Kolonialmächte, babylonisches Sprachengewirr auf engstem Raum, undurchsichtige Geschäfte unter klarem Himmel und am Rande einer transparenten, aber abgrundtiefen See. Abenteurer und Piraten gaben der Region ihr Gepräge, neben den vielen Millionen Sklaven, die seit dem 16. Jahrhundert für das Wohlbefinden ihrer Herren zu sorgen hatten.
Die Region hat eine bewegte Geschichte, und es ist eine Region in Bewegung. Wirtschaftliche und soziale Unterschiede zwischen den karibischen Eiländern ließen und lassen die Menschen ihr in der Heimat verhindertes Glück bei den nächstbessergestellten Nachbarn suchen. Die Dominikanische Republik ist Zwischenstation auf dem Weg nach Puerto Rico, Puerto Rico wiederum Sprungbrett für die USA. Um legal oder illegal ins „gelobte“ Land zu kommen, nehmen Menschen große materielle und emotionale Opfer in Kauf und gefährden oft genug sogar ihr Leben und ihre Gesundheit – die jüngste Fluchtwelle aus Cuba ist dafür wieder ein eindringliches Beispiel.
In dieser Ausgabe stehen Hintergründe und Folgen von Migrationsbewegungen sowohl in den Heimatländern als auch den Einwanderungsländern im Mittelpunkt. In der Karibik und in Zentralamerika ist Emigration keine neue Erscheinung, sondern ist seit Jahrzehnten bedeutsam. Aus diesem Grund können hier Prozesse, Entwicklungen und auch Veränderungen sehr langfristig beobachtet und entsprechende Schlüsse daraus gezogen werden. Da ist auf der einen Seite die Ausgangssituation: Menschen brechen aus der Enge fremdbestimmter Produktionsverhältnisse aus; fliehen vor Statthaltern einer Ordnung, die längst aufgehört hat, eine zu sein. Auf der anderen Seite muß aber auch die Situation im Aufnahmeland beleuchtet werden. Es reicht nicht, lakonisch festzustellen, die Flucht entpuppe sich am Ende allzu häufig als illusorische Suche nach einem Platz an der Sonne im Grau(en) des Nordens.
Denn Migration ist ein Faktum. Migration hat Auswirkungen auf die Aufnahmeländer wie auch auf die MigrantInnen selbst. Der Weggang bedeutet auch Erweiterung des Erkenntnis-Horizonts, bedeutet Entwicklung neuer Kulturmuster und hat, was nicht zu vergessen ist, ein ökonomisches Gewicht für die Bilanz der Herkunftsländer. Einige könnten ohne die regelmäßigen Überweisungen der Familienmitglieder im Ausland überhaupt nicht mehr überleben.
Und Migration ist nicht mehr einfach rückgängig zu machen, wie das erschreckend viele BewohnerInnen wohlhabenderer Staaten so gerne wollten (und gesetzlich erzwingen wollen) – wobei sie vergessen, was alles sie längst nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell von den ImmigrantInnen gehabt und übernommen haben. Denn MigrantInnen sind keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung des eigenen Lebensstandards.
Einigen wird auffallen, daß Artikel zu Puerto Rico und zu Puertoricanern in den USA in diesem Heft fehlen. Wir hatten mehrere Beiträge geplant, die entweder nicht rechtzeitig bei uns eintrafen oder die wir aus Gründen des fehlenden Copyrights nicht veröffentlichen konnten. Daher liegt der Schwerpunkt dieser Ausgabe neben den USA als wichtigstem Einwanderungsland vor allem auf Haiti und der Dominikanischen Republik. Ergänzt werden die Karibik-Beiträge des Schwerpunktes durch weitere Artikel zu dieser Region in den „Berichten und Hintergründen“, der „Kulturszene“ und den „Lebenswegen“. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre der Aufbrüche zu neuen Ufern.
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