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Straßenkinder sind ein Thema, das sich in der letzten Zeit großer Beliebtheit erfreut. Kaum eine Zeitung oder Zeitschrift, die darüber nicht umfangreiche, reich bebilderte Beiträge gebracht hätte. Kaum ein Radioprogramm oder Fernsehkanal, die dazu nicht immer wieder längere Sendungen ausstrahlen. Abgesehen von einigen seriösen Beiträgen, vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien, „verkaufen“ die meisten „erschütternden“ Dokumentationen bei Sendungen über Straßenkinder in Lateinamerika arme, unschuldige Kinder mit großen Augen, denen (mit Spenden) geholfen werden muß. Bei Berichten über Straßenkinder aus Deutschland hingegen wird eine für die KonsumentInnen prickelnde Mischung aus Sex, Drugs & Crime serviert.

Ein erhebliches Unbehaben angesichts dieser sensationslüsternen Berichterstattung und den dazugehörigen Almosenapellen führte dazu, daß wir uns selbst dieses Themas annahmen. Nicht daß wir etwas gegen Projekte hätten, die den Kindern helfen, sich angesichts der vielfältigen Gefährdungen, denen sie ausgesetzt sind, zu behaupten. Im Gegenteil! Aber es nervt uns, wenn in der Spendenwerbung die Kinder zu bloßen Mitleidsobjekten degradiert werden; wenn Projekte progagiert und unterstützt werden, die die Kinder zuallererst von der Straße, d. h. aus ihrem sozialen Umfeld herausholen wollen; wenn die Bedürfnisse der Kinder dort von mittelständisch-europäischen Vorstellungen, wie Kinder aufzuwachsen haben, beurteilt werden; wenn die Tatsache, daß Kinder auf der Straße leben und arbeiten, zum beinahe ausschließlichen Problem (gemacht) wird, das Warum aber nahezu völlig ausgeblendet bleibt. Wen kümmert es, daß die Bedingungen, unter denen die Kinder vorher lebten, für sie unerträglich und perspektivlos waren, so daß ihnen ein Leben auf der Straße noch als bessere Alternative erschien? Eine Auseinandersetzung mit der Situation von Straßen-Kindern und -Jugendlichen hier und in Lateinamerika war für uns zentral. Wir waren überrascht, wie viele Gemeinsamkeiten es trotz aller Unterschiede zwischen beiden Gruppen gibt. So etwa die Zerstörtheit sozialer Bezugssysteme oder in der Familie erfahrene Gewalt und sexueller Mißbrauch. In Lateinamerika kommt hinzu, daß materielle Not in großem Umfang Kinder zwingt, auf der Straße zu arbeiten und auch zu leben.

Die Frage der Kinderarbeit diskutierten wir kontrovers. Zweifelsohne bedeutet der Zwang der materiellen Verhältnisse in Lateinamerika, daß arbeitende Kinder entsprechend geschützt werden müssen und alle Bemühungen, sich zu organisieren und kollektiv ihre Interessen zu vertreten, unterstützt und gefördert werden sollten. Unterschiedliche Positionen haben wir allerdings dazu, ob es etwa sinnvoll ist, ein Recht auf Arbeit für Kinder zu fordern. Dies mag zwar das Selbstbewußtsein der Kinder fördern und ihre Position in der Konkurrenz mit Erwachsenen (v.a. mit Männern) um Jobs stärken. Aber es impliziert auch, daß Kinder ihre Fähigkeiten von früh an nur sehr einseitig entwickeln, nämlich daraufhin, sich auf der Straße und in ihren dortigen (in der Regel wenig qualifizierten) Tätigkeiten zu behaupten.

Die Existenz von arbeitenden und Straßenkindern in Lateinamerika ist, wie hier gelegentlich behauptet, kein Zeichen von Rückständigkeit, sondern primär ein Produkt der Modernisierung, der Zerstörung traditioneller Strukturen in Landwirtschaft, Handwerk und Industrie und ihre Ersetzung durch Strukturen, die weder in der Lage sind, die Menschen zu integrieren und ihnen sinnvolle Aufgaben zu geben, noch sie materiell und sozial abzusichern. Damit werden alte Sichtweisen hinfällig, bzw. verkehren sich ins Gegenteil. In der Entwicklungseuphorie der sechziger Jahre behauptete die Modernisierungstheorie, ein unterentwickeltes Land erkenne im entwickelten Land das Spiegelbild seiner künftigen Entwicklung. In den Zeiten des neoliberalen Kapitalismus kann man diese Aussage hinsichtlich sozialer Ausgrenzung und der Zerstörung sozialer Bezugs- und Sicherungssysteme eher umdrehen. Soziale Ausgrenzung, fehlende Zukunftschancen insbesondere für Jugendliche aus den Unterklassen sowie die Zerstörung familiärer Strukturen werden auch hier weiter zunehmen.

Vom 31. März bis zum 2. April d.J. wird an der Fachhochschule Düsseldorf eine Tagung zur Arbeit mit Straßenkindern stattfinden (vgl. S. 69). In der Einladung betonen die VeranstalterInnen, daß die lateinamerikanischen Erfahrungen in der „subjektorientierten“ Arbeit mit Straßenkindern für Europa eine wichtige Rolle spielen können. Denn die Herausforderungen, die sich kritischen PädagogInnen in Lateinamerika stellen und auf die sie versuchen emanzipatorische Antworten zu finden, werden auch bei uns stärker hervortreten und Antworten im Interesse der Kinder erfordern, ehe die Apostel der „Inneren Sicherheit“ sie als neuen inneren Feind ausmachen, den es energisch zu bekämpfen gilt.

PS: Nach wiederholter Kritik von LeserInnen und MitarbeiterInnen, unsere Schrift sei zu dünn und damit teilweise schwer lesbar, haben wir den Schrifttyp gewechselt.