„Wer zu spät kommt, den bestraft der Markt“, so der frischgebackene CDU-Minister Rüttgers nach einer Sitzung des Technologierates 2000 über die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland.. Eine dankenswert offene, zynische Variante des berühmt gewordenen Gorbi-Spruchs über die strafende Geschichte. Der Markt ist an die Stelle der Geschichte getreten, zumindest in den Köpen einiger seiner Ideoogen wie des Herrn Rüttgers oder auch jenes Herrn Fukuyama, der schon 1989 das „Ende der Geschichte“ prophezeit hatte.
Gesellschaften sind dazu da, dem globalen Markt zu dienen, nicht umgekehrt. Die menschlichen Bedürfnisse sind diesem anzupassen, nicht er soll jene befriedigen. Daß er das nebenbei auch noch gelegentlich tut, ist willkommene Begleiterscheinung. Im obigen Zitat verdichtet sich das Wesen des so sachzwanghaft klingenden Begriffs Strukturanpassung. Im Grunde steht nichts anderes dahinter als die alte Aussage über die längst zur zweiten Natur gewordenen Produktionsverhältnisse, die die Herrschaft über die natürlichen Verhältnisse anstreben. Der von den Blockfesseln befreite Markt kann sich endlich ungehindert bis in die entlegensten Regionen ausbreiten, global werden.Weltweit hat er schon lange gewirkt, aber die Existenz des sozialistischen Lagers war immer ein hemmender Störfaktor, eine politische und soziale Bremse.
Heute hingegen können ungehemmt westeuropäische, russische und US-amerikanische Rüstungsanbieter in konkurrierender Eintracht eine gespenstisch anmutende Waffenmesse in der Wüste eines Emirat veranstalten. Nicht nur potente Scheichs sind unter den potentiellen Kunden, sondern auch Chinas Militärs zum Beispiel oder deren Zulieferer.
Und wie steht’s um Deutschlands Rolle in der Welt? In einem Beitrag für das ARD-Morgenmagazin hat ila-Mitarbeiter Lorenz Beckhardt in seiner Eigenschaft als WDR-Reporter für einigen politischen Wirbel gesorgt, indem er durch einen ehemaligen NVA-Offizier hat nachweisen lassen, daß die türkische Regierung Panzer und Waffen aus NVA-Beständen in ihrem Krieg gegen die Kurden einsetzt. Aus einer Lieferung während des Golfkriegs stammend, sollten diese ausschließlich zur Landesverteidigung eingesetzt werden, auf keinen Fall jedoch gegen Zivilbevölkerung.
Nun wird die türkische Regierung ein weiteres Mal – wie vor einem Jahr – durch ihre eigene Kriegsberichterstattung eines flagranten Vertragsbruchs überführt, und wieder sagt unser hemdsärmeliger Außenminister: „Ich habe keinen Grund, der Aussage unseres NATO-Verbündeten nicht zu glauben.“ So einfach ist es, die Wahrheit schlicht auszuklinkeln; was nicht sein darf, wird eben den herrschenden Strukturen angepaßt. Die immer näher rückende Kriegsfront im eigenen Land kommt da nur gelegen. Ausgebrannte Häuser, Reisebüros, Moscheen sind allerdings düstere Vorboten einer Auseinandersetzung, die auch kein Schengener Abkommen verhindern können wird.
Wohltuend hebt sich von dem eingangs zitierten „Zukunfts“-Minister Rüttgers ein anderer Zukunftskommissar, der Soziologe Ulrich Beck (Mitglied der Zukunftskommission der Freistaaten Bayern und Sachsen) ab. Unter dem Titel „Utopie der Selbstbegrenzung“ schrieb er am 25. März 1995 in der Süddeutschen Zeitung: „Es fehlt die Alternative. Doch die Suche danach ist längst im Gange. Die schöne Zwischenzeit der Utopielosigkeit geht zu Ende. Man muß es nur offen aussprechen, damit es allen wie Schuppen von den Augen fällt: Wir leben im Vorstadium einer neuen Reformation (einschließlich der Glaubenskämpfe um sie). Marx ist nur scheinbar tot. Er ist als Manager, Grüner, als bewegte Mutter und Feministin, als Mikrochip, Gentherapeut, als Mitglied der ,revolutionären Viren‘, als Zukunftsforscher, Flexibilitätsmacher, Markt-Anarchist, Arbeitslosigkeits-Apostel und Natürlichkeits-Fundamentalist wieder auf die Welt gekommen.“ Mit einer solchen dialektischen Reinkarnation im Gepäck können wir uns doch getrost an den strukturellen Umbau machen.