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Während haitianische Maler mit ihren Motiven weiterhin auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“ sind, wird im Südpazifik, ungerührt von weltweiten Protesten, ein weiteres globales Verbrechen gegen Natur und Menschlichkeit begangen. Während archaisch anmutende Segler ihre Fracht, in Säcken gestapelte Holzkohle, unbeirrbar von den noch nicht gänzlich abgeholzten Bergen des haitianischen Nordwestens in Richtung Hauptstadt transportieren, kreuzen Traumschiffe zwischen den karibischen Inseln und spucken ihre Fracht, wohlgenährte Touristen, an eigens dafür präparierten Stränden vorübergehend aus.

In Haiti koexistieren ein Höchstmaß an Analphabetismus mit den elektronischen Notebooks der UNO-Experten, ein ausgeprägter Wille zur Selbstbestimmung mit einer über die Jahrhunderte verbogenen Sklavenmentalität, eine hochpolitisierte zivile Gesellschaft mit einer überkommenen Sozialstruktur, deren bisherige Eliten immer noch krampfhaft an der „verlorenen Zeit“ festhalten wollen. Der einzige Garant dafür, daß aus den weit auseinanderklaffenden Widersprüchen noch kein gewalttätiger, sozialer Wirbelsturm wurde, ist der vor elf Monaten in sein Amt zurückgekehrte Präsident Jean-Bertrand Aristide. Das wissen sowohl der Präsident der USA, für den die Lösung des „Problemfalls“ Haiti von Anfang an auch eine innenpolitische Bedeutung hatte, als auch seine republikanischen Gegenspieler, die nichts unversucht lassen, um der Öffentlichkeit nachzuweisen, daß die „humanitäre“ Intervention in Haiti ein grober außenpolitischeer Fehler war.

Beide scheinen jedoch ihre Überlegungen anzustellen, ohne den eigentlichen Protagonisten auf dem Spielfeld gebührend zu berücksichtigen: die mit traditionellen Kategorien nicht zu fassende informelle Mehrheitsgesellschaft Haitis, die auch bei den gerade durchgeführten Parlaments-, Senats- und Bürgermeisterwahlen deutlich wie nie zuvor gezeigt hat, daß sie mit den überkommenen Herrschafts- und Entscheidungsstrukturen endgültig zu brechen beabsichtigt. Der überwältigende Sieg der neuen politischen Kräfte – versammelt in der Lavalas-Plattform – gegenüber den bisher tonangebenden klassischen Wahlvereinen schafft erstmals landesweit Voraussetzungen für die Institutionalisierung eines politischen Projekts, für dessen Entstehung die Symbolfigur Aristide wohl unverzichtbar war, für dessen Umsetzung in die Wirklichkeit des Landes aber längst eine breite gesellschaftliche Basis besteht. Ob diese Umsetzung gelingen kann, bleibt jedoch fraglich, sie hängt wesentlich von der Bereitschaft internationaler Investoren ab, die ihr kurzfristiges Profitinteresse zugunsten der Investition in den Aufbau langfristiger, sich selbst tragender Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft des Landes zurückzustellen.

Die Fragen, die Gérard Pierre-Charles – eine Schlüsselfigur auf dem Parkett der Lavalas-Plattform – am Schluß eines Artikels über die Aktualität der Visionen des haitianischen Nationalhelden Toussaint Louverture stellt, sind auch an uns gerichtet. „Wann wird der Traum und die Utopie Louvertures möglich und gangbar werden? Welche neuen Kräfteverhältnisse, welche Änderungen der Mentalitäten oder der Ideologien sind nötig, damit solche Projekte umgesetzt werden können? In welchem Maße wird die neue internationale Ordnung, die uns der Westen ankündigt, den Zugang zu einem solchen konstruktiven und gleichberechtigten Zusammenleben erlauben?“

 

P.S  Gleichzeitig mit dieser ila erscheint die Nummer 16 der ila-latina, einer spanischsprachigen Zeitschrift, die eine autonome Redaktion von LateinamerikanerInnen in der ila erstellt. Der Bezug der ila-latina, die 3-4 Mal jährlich erscheint und in der Regel einen Umfang von 16 Seiten hat, ist für ila-AbonnentInnen kostenlos. Voraussetzung ist, daß sie uns ihren Wunsch, die ila-latina regelmäßig zu bekommen, kurz brieflich, telefonisch, per Fax, über e-mail oder sonstwie (bei Flaschenpost bitte die Fließrichtung des Rheins beachten!) mitteilen. AbonnentInnen in Lateinamerika und Spanien geht die ila-latina automatisch zu.