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In den letzten Jahren haben einige lateinamerikanische Filme – anders als in früheren Zeiten – den Sprung in die hiesigen Kinos geschafft und waren sogar kommerziell relativ erfolgreich: Sur, Die Reise, Erdbeer und Schokolade, Bittersüße Schokolade sind Filme, die anders als ihre Titel vermuten lassen, keineswegs nur die Schokoladenseiten der lateinamerikanischen Realität zeigen und – zumindest die drei erstgenannten – hervorragendes, unterhaltsames und mitnichten unpolitisches Kino bieten.

In diesem Jahr wird allenthalben „100 Jahre Kino“ gefeiert. In den Printmedien wird viel darüber geschrieben, im Fernsehen werden anläßlich des Jubiläums unzählige Sondersendungen und natürlich Klassiker des internationalen Kinos präsentiert. Danach könnte man meinen, die Geschichte des Kinos habe nur in Europa und den USA stattgefunden. Dabei ist auch in Lateinamerika das Kino so alt wie das Medium selbst. Schon 1896 entstanden dort die ersten Filme. Wurden lange Zeit überwiegend Unterhaltungsfilme produziert, entwickelte sich ab den späten fünfziger und v.a. in den sechziger Jahren ein engagiertes Kino, das sich mit der sozialen Realität des Kontinents auseinandersetzte. Diese Filme wurden nicht nur in Lateinamerika zur Kenntnis genommen. Auch in Europa motivierten sie vor allem in den siebziger und frühen achtziger Jahren viele Leute bei uns, sich für Lateinamerika zu engagieren. Das kämpferische Kino des Bolivianers Jorge Sanjinés (Ukamau, Das Blut des Kondors, Der Mut des Volkes), die engagierten Dokumentarfilme der Kolumbianerin Marta Rodríguez (Ziegeleiarbeiter, Blumenfrauen) oder die Produktionen des revolutionären nicaraguanischen Filminstituts INCINE wurden in der bundesdeutschen Soliszene begierig aufgenommen. Bei unseren Veranstaltungen haben wir sie immer wieder eingesetzt, weil sie uns geeignet schienen, über die sozialen Verhältnisse in Lateinamerika zu informieren und dem hiesigen Publikum die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen eindringlich vor Augen zu führen.

Seit Beginn der achtziger Jahre ist viel von einer Krise des lateinamerikanischen Kinos die Rede. Neben dem Verlust revolutionärer Utopien und Gewißheiten ist es die extrem schwierige ökonomische Situation und die Dominanz der US-Produktionen, die den lateinamerikanischen FilmemacherInnen zu schaffen machen. Auch die Gründung der Fundación del Nuevo Cinema Latinoamericano in der Nähe von Havanna im Dezember 1986, die sich eine Änderung dieser Situation auf die Fahnen geschrieben hatte, konnte daran nichts wirklich ändern. Die Worte ihres Gründungspräsidenten Gabriel García Márquez ließen hinter dem obligaten einleitenden Bescheidenheitstopos noch große Hoffnungen durchblicken: „Ich stehe nicht hier, um eine Bewegung zu erfinden oder eine kulturelle Explosion auszulösen. So etwas kann ein Gründungspräsident allein nicht leisten. Ich möchte vielmehr das Wachsen einer bereits existierenden Bewegung stimulieren und bei ihrer Entwicklung mithelfen. Ich glaube, daß wir einen Punkt erreicht haben, an dem wir jenem Phänomen, das sich nun schon dreißig Jahre lang entwickelt hat, einen weiteren Impuls geben müssen.“

Dieser Impuls war sicherlich wertvoll, doch der Schneeballeffekt blieb aus – welch Wunder angesichts der skandalösen Budgetkürzungen für Kultur allgemein und Film im besonderen! Ebenso wichtig und letztendlich vielleicht sogar wichtiger sind die Rahmenbedingungen, die weltweit dem US-Film eine Monopolstellung zu sichern vermochten.

Dennoch ist das lateinamerikanische Kino nicht tot. Aber die politischen und ästhetischen Prämissen haben sich verändert. Größere Spielfilmproduktionen sind nur noch möglich, wenn sie „sich rechnen“. Und dafür müssen die Filme vor allem unterhaltsam sein. Wenn sie dieser Anforderung gerecht werden, werden auch politische Inhalte von den ZuschauerInnen „in Kauf genommen“, wie es ein Kinobetreiber in dieser Nummer halb scherzhaft formuliert.

Die vorliegende Nummer der ila lädt ein zu einem ausgiebigen Spaziergang durch Geschichte und Gegenwart des lateinamerikanischen Kinos. Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit haben wir versucht, Beiträge über den Film in möglichst vielen lateinamerikanischen Ländern zusammenzustellen und sehr unterschiedliche Arten des Filmschaffens zu präsentieren. Damit wollen wir zeigen, wie vielfältig das lateinamerikanische Kino ist, und vor allem wollen wir neugierig machen. Man kann viel über Kino schreiben, aber Filme muß man vor allen Dingen anschauen. Viele Programm- oder Kommunale Kinos präsentieren regelmäßig lateinamerikanische Filme, und wenn nicht, kann man bei den KinobetreiberInnen ja auch mal deutliches Interesse bekunden.