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Was haben das Rheinland und viele Regionen Lateinamerikas gemein? Nun, man – und frau auch – feiert dort Karneval. Dabei sind die Formen und Rituale dieses Karnevals so unterschiedlich wie die Regionen. Den Karneval in Rio und Köln kennt wahrscheinlich jedeR, schon weniger bekannt ist, daß es auch in Uruguay, Kolumbien, Trinidad & Tobago, Cuba, Haiti und weiteren Karibikstaaten einen überwiegend von Schwarzen geprägten Karneval gibt und die karibischen Immigranten einen äußerst lebendigen Karneval in London feiern. Noch weniger bekannt als der schwarze Karneval außerhalb Rios ist der indianische Karneval etwa in Ayacucho/Peru, Oruro/Bolivien, im kolumbianischen Cauca oder in Humahuaca im Norden Argentiniens. Eine wieder ganz andere Form des Karnevals sind die „weißen“ Murgas in Uruguay. Diese auf spanische Traditionen (Cádiz) zurückgehenden Männer-Gesangsgruppen haben sich während der Militärdiktatur in Uruguay enorm politisiert und wurden zu einem wichtigen Artikulationsventil für die Unzufriedenheit der Bevölkerung.

So wie bei den uruguayischen Murgas unter dem Eindruck politischer Unterdrückung eine traditionelle Karnevalsform mit neuen, kritischen Inhalten gefüllt wurde, haben in den letzten Jahren in Nicaragua Natras (Straßenkinder – sie selbst lehnen diesen Begriff ab und bezeichnen sich als arbeitende Kinder) einen ganz eigenen Karneval entwickelt. Kindliches Spielen und Austoben verbinden sich hier mit dem politischen Anspruch, einen festen Platz und Anerkennung als arbeitende Kinder in der Gesellschaft zu reklamieren.

So unterschiedlich die Formen und Rituale jeweils auch sein mögen, so gibt es doch einige Elemente, die den Karneval in den verschiedensten Regionen gemeinsam sind. Erstens sind während der Karnevalszeit zahlreiche Reglementierungen und Tabus gelockert – das gilt vor allem für die restriktive Sexualmoral. Damit zusammenhängend werden häufig die sonst gültigen Normen im Umgang der Geschlechter außer Kraft gesetzt. Das beginnt bei der Damenwahl beim Tanz und geht über die Tatsache, daß Frauen alleine losziehen und dabei z.T. sehr offensiv auf Männer zugehen, bis hin zu symbolischen Handlungen wie das „Schlips-(Krawatte-) Abschneiden“ bei der rheinischen Weiberfastnacht.

Geschlechterverhältnisse sind dabei nur ein Element von Machtverhältnissen. Deshalb stellt Karneval überall auch eine Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen dar. Diese werden häufig reproduziert, wie etwa beim rheinischen Sitzungskarneval oder bei vielen von den lokalen Eliten – hier wie in Lateinamerika – geprägten Umzügen. Sie können aber auch kritisch-humorvoll in Frage gestellt oder schlichtweg verspottet werden, wie mitunter im Straßenkarneval, bei den schon erwähnten Beispielen aus Uruguay und Nicaragua oder den innovativen Karnevalsformen im Rheinland („alternative“ Sitzungen und Umzüge).

Wir sind der Meinung, daß die Art des Karnevalfeierns sehr viel über die gesellschaftlichen Verhältnisse und Konflikte in der jeweiligen Region aussagt. Es war allerdings nicht nur soziologisches Interesse, das uns zu einer Karnevalsnummer motiviert hat. In den letzten 10-15 Jahren hat sich das Verhältnis der ila-MitarbeiterInnen und generell der kritischen, politisch aktiven Menschen im Rheinland zum Karneval grundlegend verändert. War noch zu Beginn der achtziger Jahre die übliche Frage im Januar „Wo fährst du Karneval hin?“, verabredet man und frau sich heute zu den diversen Karnevalsvergnügen, von den (politisch korrekten) alternativen Sitzungen und Umzügen bis zur Beueler Weiberfastnacht und den traditionellen Rosenmontagszügen in Köln oder Bonn. Ein ila-Layouten am Rosenmontag, wie vor einigen Jahren noch geschehen, wäre heute nicht mehr denkbar. Neben der Tatsache, daß sich die früheren KarnevalsbanausInnen eigene Karnevalsformen geschaffen haben, spielt dabei eine große Rolle, daß sich die Ikonen des rheinischen Karnevals (Bläck Fööss, De Höhner, Willy Millowitsch) in den letzten Jahren in überzeugender Weise dem zunehmenden Rassismus und den Rechtstendenzen entgegengestellt haben. „Arsch huh – Zäng ussenander“ (sinngemäß: Aufstehen und Stellung beziehen), ursprünglich Motto eines Konzerts Kölner Rock- und Karnevalsmusiker, wurde Programm, mit dem es im Rheinland gelang, eine Stimmung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu schaffen. Unter diesem Eindruck begannen auch MigrantInnen, sich in den rheinischen Karneval einzubringen und dazu beizutragen, ihm ein Stück seines provinziellen Miefs zu nehmen.

Also viel Spaß beim Lesen und allen RheinländerInnen vill Spaß beim Fiere. Alaaf! (na gut: und Helau!)

Worterklärung

Carrus Navalis/Carne Vale
‘Kar ne val ([-val] m. 1 od. m. 6)
 Fastnacht, Fastnachtsfest u. -zeit (ital. carnevale) Deutungsversuche: 1. mittel-lat. carne, vale! „Fleisch, lebe wohl!“; 2. mittellat. carnelevale „Fleischentzug“; 3. lat. carrus navalis „Schiffskarren, Räderschiff“; Räderschiffe wurde bei festlichen Umzügen zur Wiedereröffnung der Schiffahrt im Februar mitgeführt.