Alles hat seine zwei Seiten. Der freie Pollenflug des Frühlings stellt für immer mehr Menschen in unseren Breiten eine grausame Bedrohung dar, andere hingegen lassen sich von der ausbrechenden Blütenpracht zu – mitunter auch recht abenteuerlichen – Phantasien beflügeln. Die autogerechte Versiegelung unseres Landes führt womöglich dazu, daß die Natur sich auf perfide Weise rächt, indem sie nämlich eine besonders intensive Pollenkonzentration in den urbanen Räumen hastig ausstößt, auf die viele Zeitgenossen nur noch allergisch reagieren können. Es ist zu überlegen, ob nicht eine weitere europäische Wissenschaftlerkommission damit beauftragt werden sollte, die Haltbarkeit einer solchen These zu überprüfen. Wäre doch eine lohnende Aufgabe nach dem erfolgreichen Abschluß ihrer Arbeiten in Sachen BSE und Tschernobyl. Könnte zur Folge haben, daß nach der millionenfachen Rinderschlachtung auf dem royalen Eiland auch noch einige zigtausend Kilometer Beton und Asphalt aufgerissen werden müssen, damit die Erde wieder vernünftig atmen kann. Ihr seht, der Wahnsinn lauert selbst in den Spalten einer so seriösen Zeitschrift wie der ila. Oder sollte uns die sympathische Verrücktheit der Zapatisten angesteckt haben?
„Es ist nicht notwendig, die Welt zu erobern. Es reicht, sie neu zu schaffen. Jetzt. Hier. Durch uns.“ Unter diesem Motto wird zum „1. europäischen Treffen für eine menschliche Gesellschaft und gegen den Neoliberalismus“ für den 30. Mai nach Berlin eingeladen. Das Treffen folgt einem Aufruf aus Mexico vom Januar 1996, in dem die Zapatisten dazu aufforderten, im Vorfeld einer für Ende Juli/Anfang August geplanten interkontinentalen Versammlung zu dem gleichen Thema in allen Kontinenten Vorbereitungstreffen durchzuführen. Das Berliner Treffen verspricht, auf Grund seiner thematischen Grenzenlosigkeit außerordentlich spannend zu werden. Es steht zu vermuten, daß der Erlebnisreichtum dieses improvisierten europäischen Stelldicheins von Zappa- und Zapata-AnhängerInnen (keine notorischen Zapper, bitte) nicht hinter dem Ergebnisreichtum der Konferenz zurückstehen wird. Die in diesem Heft auszugsweise dokumentierte Fotoausstellung über die „wahren Menschen von Chiapas“ wird jedenfalls dort auch in voller Größe vertreten sein. Ein Grund mehr, sich auf den Weg zu machen in den Asphaltdschungel einer Ost-West-Metropole. Die Aufmerksamkeit, die Chiapas zuteil wird, führt in Deutschland zwangsläufig auch dazu, daß eine spezielle Bevölkerungsgruppe des Bundesstaates ins Visier genommen wird: die Gruppe deutscher und deutschstämmiger Kaffeepflanzer im Soconusco, die seit Beginn dieses Jahrhunderts in entscheidendem Maße zu dem strukturellen Ungleichgewicht in der Entwicklung des Staates – durchkapitalisierte Landwirtschaft in der pazifischen Küstenregion und karge Subsistenzwirtschaft im pazifistischen, mehrheitlich von Indígenas bewohnten Hochland – beigetragen haben. Die Artikel, die uns diesbezüglich zugesandt wurden, können eineN wahrlich auch noch zum Kaffee-Allergiker werden lassen.
Trotzdem viel Spaß beim Lesen und Betrachten!
P.S. Diese Ausgabe erscheint mit dem Zusatz ila „ist radikal“. Damit soll nicht nur ausgedrückt werden, daß wir grundsätzlich versuchen, mit unserer Berichterstattung die Wurzeln (lat. radix) bestimmter Übel zu thematisieren, sondern auch, daß wir uns an einer Aktion linker Zeitungen gegen die Kriminalisierung der Zeitschrift „radikal“ beteiligen. Die fortdauernde Kriminalisierung (das erste Verfahren gegen die radikal gab es 1978, seit 1984 kann die Zeitschrift nicht mehr offen erscheinen) eines Zeitungsprojektes, seiner MitarbeiterInnen und sogar LeserInnen (vgl. ila 187) mit dem Knüppel des § 129a (Unterstützung und Werbung für eine terroristische Vereinigung) ist nicht hinzunehmen, egal wie man zu den in der radikal veröffentlichten Beiträgen steht. Die Kriminalisierung solcher Projekte soll spalten, macht aus Kommunikation (z. B. mit militanten Gruppen) Mittäterschaft und soll Solidarisierung verhindern. Dieser Strategie des Staatsschutzes wollen die Zeitungsprojekte entgegentreten, indem sie das Logo der „radikal“ mit auf ihre Titelseite nehmen.