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Ein eng umschlungenes Frauenpaar in der Straßenbahn einer Großstadt, zwei Männer, Mitglieder des Angelvereins Kirchzarten, die knutschend am Teich sitzen – so was macht immer noch einen „schlechten Eindruck“ mitten im zivilisierten Mitteleuropa. Die „AbweichlerInnen» werden bestätigen, daß der Fortschritt eine Schnecke ist: Schließlich hat der Soziologe Durkheim schon vor etlichen Jahrzehnten festgestellt, daß abweichende Verhaltensformen eine natürliche und notwendige Form des sozialen Lebens sind, die für jede soziale Organisation unverzichtbar sind.

Da ist es erhellend, wenn in einem unserer Beiträge über Lesben und Schwule in Lateinamerika darüber berichtet wird, daß bei etlichen animistischen Völkern des Kontinents, unter „Primitiven“ also, Schwule und Lesben als „verzauberte Menschen“ galten und priesterähnliche Funktionen ausübten.

Vielleicht haben die „Primitiven“ besser als die „Modernen“, einschließlich der Linken, erkannt, daß Menschen, die anders leben und lieben, weder Übel noch Ärger sind, sondern ganz einfach Teil der Gesellschaft.

Die folgenden Beiträge machen jedenfalls deutlich, daß auch im „zivilisierten“ Lateinamerika die gleichgeschlechtlichen Beziehungen wie die Geschlechterverhältnisse von der Machtstruktur des Patriarchats geprägt sind – in vielfältiger Weise kombiniert mit der sozialen Machtstruktur, den Klassenverhältnissen und den Herrschaftsverhältnissen Nationalismus und Rassismus. Heraus kommt dabei eben die „triple oppression“, die dreifache Ausbeutung aufgrund von Klassen-, Rassen- und Geschlechtszugehörigkeit, die inzwischen für viele Linke zur neuen Basisvokabel geworden ist.

Die Widrigkeiten schwulen und lesbischen Lebens lassen sich jedoch mit diesem Erklärungsanstz allein nicht begreifen. Sie sind zu vielschichtig, als daß sie sich einfach über den Kamm der „triple oppression“-Theorie scheren ließen. Bisweilen scheint es beim Hantieren mit diesem neuen Begriff ohnehin wichtiger, sich politisch „korrekt“ auszudrücken als politisch zu denken und politisch zu handeln.

Wir haben versucht, mit unterschiedlichen Beiträgen auf die Breite des lesbischen und schwulen Panoramas hinzuweisen, ohne uns dabei in ein „political corset“ zu zwängen. Vielleicht ist es uns nicht gelungen, einen rosaroten Faden durch die Sammlung von Artikeln zu ziehen. Dafür aber spiegelt das bunte Durch- und Nebeneinander die Aufforderung der bewußten „AbweichlerInnen“ wider, Unordnung in die herrschende Ordnung zu bringen. Daß sie nicht wenig riskieren, wenn „sie aus den Wandschränken kommen“ (Coming out of the closet – Bekenntnis zur homosexuellen Identität), um ihren Mitmenschen einen Spiegel vorzuhalten, zeigt, wie richtig sie liegen mit ihrem Anspruch, ihre Befreiung zum festen Bestandteil der Revolution zu machen.

Wichtig war uns, daß die lateinamerikanischen Lesben und Schwulen in diesem Schwerpunkt nicht nur als Opfer von Gewalt und Diskriminierung erscheinen, sondern als handelnde Subjekte, die in den letzten Jahren – trotz aller Widerstände – öffentliche Präsenz und Räume erobert und Diskussionsprozesse über Sexualität und Anderssein angestoßen haben. Deshalb haben wir AktivistInnen der lateinamerikanischen Schwulen- und Lesbenszene selbst zu Wort kommen lassen. Wir freuen uns, unseren LeserInnen neben diversen Artikeln und Interviews in dieser Ausgabe zwei faszinierende literarische Texte, Erzählungen von Caio Fernando Abreu und Sergio Ramírez, in deutscher Erstveröffentlichung präsentieren zu können.

Besonders danken möchten wir an dieser Stelle Klaus Jetz, der sich in der BRD seit langem für die Unterstützung der Schwulen- und Lesbenbewegung in Lateinamerika engagiert und ohne dessen intensive Mitarbeit und Hilfe bei der Herstellung von Kontakten dieses Heft so nie zustande gekommen wäre.