Wer erinnert sich nicht an die Zeit des entwicklungspolitischen Aufbruchs, genauer gesagt: an die Zeit, als der Aufbruch an Rednerpulten und von Kanzeln herab beschworen wurde? Damals wurden vollmundig Entwicklungsdekaden ausgerufen, die Programme hießen Grundbedürfnisorientierung, Option für die Ärmsten der Armen, „Allianz für den Fortschritt“ usw. Noch in den 60er und 70er Jahren schien selbst das Establishment nach „Fortschritt und Entwicklung“ auch für die „Unterentwickelten“ zu streben.
Was aber kam? Als es mit dem Aufbruch ernst wurde, die Menschen aufbrachen, mancherorts gar aufstanden, wurden Militärdiktaturen eingesetzt. Die ließen es nicht bei der Wiederherstellung der herrschenden Unordnung bewenden, sondern forcierten die Modernisierung und den nationalen Ausverkauf in Wirtschaft und Kultur. Unsagbare Gewalt und ebenso unsägliche Armut waren nicht der bedauerliche Preis dafür, sondern wohl bedachte Schritte zur geplanten Friedhofsruhe. Jetzt war die Zeit wieder reif für die Demokratie, denn nun war einigermaßen sichergestellt: Von Sozialismus oder Entwicklung oder auch nur sozialer Sicherheit wagen die Menschen heute nicht einmal mehr zu träumen.
Mit erdrückender Allgegenwärtigkeit hat sich die Ideologie des Neoliberalismus breitgemacht. Wer arm ist, ist selbst daran schuld.
Auch in den Metropolen reibt man sich mittlerweile die Augen: Uns ging’s doch recht gut in den vergangenen 30 Jahren. Wieso ist plötzlich in einigen Bundesländern jedeR fünfte Obdachlose ein Kind? Warum zünden rechtsradikale GewalttäterInnen immer wieder die Wohnungen ausländischer MitbürgerInnen an? Warum wollen deutsche BürgerInnen und deutsche BürgermeisterInnen die PennerInnen aus dem Stadtbild vertreiben? Noch bemühen sich manche BürokratInnen auf den Sozial- und Arbeitsämtern an guten Tagen um zivilisierte Umgangsformen. Doch auch sie schlagen immer rauhere Töne gegen Arme und Kranke und gegen willkürlich erkorene Sündenböcke aus dem Ausland an.
In anderen Weltgegenden ist der physische Terror gegen Arme schon heute Massenphänomen, in Brasilien wird bereits vom „sozialen Genozid“ gesprochen. Hinter der Fassade der Demokratien niedriger Intensität tobt der Krieg gegen die Armen, und innerhalb dieses Krieges operieren die Sondereinsatzkommandos gegen Straßenkinder, Schwule, Prostituierte und kleine Kriminelle. Die hartnäckige Allianz aus reaktionären Saubermännern, Geschäftsleuten, Teilen des Mittelstandes und Drahtziehern aus Politik und Großfinanz sorgt für Tote und bietet starken Männern eine Legitimationsbasis für ihr hartes Durchgreifen. Ein „Teufelskreis“ entsteht: In- und ausländisches Kapital beutet völlig dereguliert aus und preßt ab, was das Zeug hält, der Staat, aller alten und neuen Kleider beraubt, ist zum Instrument der nackten Gewalt geworden, eine zwangsläufig steigende Kriminalität (die oftmals de facto Mundraub ist) wird zum zentralen Problem der nationalen Sicherheit erhoben – und es beginnt der Krieg gegen die Delinquenz, der so unsinnig ist wie der Krieg gegen Drogen. Auch wenn dies keine erklärten Kriege sind, spielen die Militärs dabei eine Rolle, und für sie gehört Terror allemal zum Handwerk. Es ist wohl kein Zufall, daß der von parallelen Strukturen – Polizei und Militär in Zusammenarbeit mit Paramilitärs und berufsmäßigen Killern – ausgeübte Terror gegen die Ausgeschlossensten der Ausgeschlossenen in Ländern wie Argentinien, Brasilien, El Salvador, Kolumbien besonders grassiert. Hier haben die parallelen Strukturen eine Jahrzehnte alte Tradition, die geschützt von nachhaltiger Straflosigkeit fortwährt.
Deshalb wollen wir den biedermännischen Einsatz von Hamburgs regierendem Bürgermeister Voscherau für die Wohnlichkeit der Stadt oder des Kölner Oberstadtdirektors Ruschmeier gegen BettlerInnen und StraßenkünstlerInnen auf der Domplatte nicht in einen Topf werfen mit dem Terror gegen Straßenkinder in Brasilien. Aber hier wie dort werden Menschen zu Unrat erklärt – nur weil sie nach kapitalistischer Logik nicht gebraucht werden.