Als 1992 das Elend 500 Jahre alt geworden war, gab es bemühte Stimmen, die auf den zivilisatorischen Beitrag verwiesen, den Kolonisierung und Evangelisierung trotz alledem nach Lateinamerika gebracht haben sollen. Von Geistigem war da die Rede, aber nicht von geistigen Getränken, und schon gar nicht von Bier. Das mag damit zusammenhängen, daß diese zivilisatorische Errungenschaft erst vor ca. 100 Jahren zu den inzwischen politisch von der spanischen Krone unabhängig gewordenen Kolonisierten kam. Ungefähr um dieselbe Zeit hielt auch der Kaffeeanbau seinen Einzug in Lateinamerika, unter anderem wegen der rapide steigenden Nachfrage in den Industriemetropolen. Während der Kaffee sich hier recht schnell durchsetzte, gestaltete sich der Vormarsch des Bieres auf dem Subkontinent weniger rasant. Das hat aber nichts damit zu tun, daß das Bier weniger als der Kaffee als „Opium des Volkes“ geeignet wäre, sondern mit den Verhältnissen auf dem Weltmarkt, die uns – das sei dem Schwerpunktthema „Bier in Lateinamerika“ vorangestellt – sogar beim Genuß eines süffigen Bieres belästigen.
Um weite Ländereien unter Kaffeebäume zu setzen, mußte der Anbau von Grundnahrungsmitteln dem neuen Genußmittel weichen. Um dem Industriebier einen Markt zu verschaffen, mußten die „chichas“, die Hausbiere, verdrängt werden. Mit zu den Segnungen der Zivilisation gehörte auch die Veränderung der Trinkgewohnheiten. Der gemeinschaftliche Genuß alkoholischer Gebräue zu rituellen und anderen dem Gemeinwesen dienenden Zwecken ist mehr und mehr dem einsamen Herunterspülen des „Ärgers“ gewichen. Daß der Pro-Kopf-Verbrauch von Bier in Lateinamerika immer noch weit niedriger ist als in Europa und Nordamerika, scheint nach wie vor weniger mit der Nachfrage als mit der Zahlungskraft zu tun zu haben. Laut einer Statistik der Weltgesundheitsorganisation ist kein einziges lateinamerikanisches Land unter den 25 Nationen mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol zu finden.
Aus dem Material, das wir für diesen Schwerpunkt zusammengetragen haben, ergibt sich gleichwohl nicht der Schluß, daß der Alkoholismus in Lateinamerika ein geringes oder zu vernachlässigendes Problem wäre. Mit Statistiken ist es so eine Sache: Sie erfassen Geldausgaben und warenförmige Produkte, aber nicht die Entfremdung von GelegenheitsarbeiterInnen, ihre Sehnsucht, den Alltag zu vergessen. Auch nicht, was sie sich zu diesem Zwecke zusammenbrauen und zusammenbrennen. Unübersehbar ist aber der Zusammenhang zwischen Alkohol und Elend: in den lateinamerikanischen Städten derjenige zwischen Flaschen- beziehungsweise Dosenbier und dem Überlebenskampf in den Elendsvierteln; in den lateinamerikanischen Dörfern derjenige zwischen hausgemachtem Gebräu und schwerer, den Körper auslaugender Arbeit. Was nicht heißt, daß Biertrinken für Arme wie für Wohlhabendere auch ein Genuß sein kann, daß gutes Essen, zu dem ein Bier kredenzt wird, noch besser schmeckt, daß interessante Gespräche beim Bier zu menschlicher Begegnung transzendieren.
Um unseren „alkoholistischen“ Schwerpunkt auch holistisch (d.h. ganzheitlich; der ungebildete Säz.) einzuleiten, hier noch ein Wort zur Globalisierung: In etlichen lateinamerikanischen Ländern herrschen auf dem Biermarkt Oligopole oder gar Monopole – im übrigen wohlgelitten, weil sie als traditionelle Kerne der importsubstituierenden Konsumgüterindustrie gute Steuerzahler sind. Ob die in Lateinamerika weiter als in der Bundesrepublik gediehene Konzentration auf dem Biermarkt die Umkehrung zivilisatorischer Ströme einläutet und ob die Umstellung von Bit auf Corona die vom chinesischen Revolutionär Lin Piao propagierte Einkreisung der Städte durch die Dörfer ankündigt – diese und weitere schwierige Fragen zum Thema Bier in Lateinamerika zu reflektieren, überlassen wir unseren LeserInnen.