Wer einmal ein paar Jahre in ihr gelebt hat, kommt nur schwer wieder von ihr los, von dieser angenehm temperierten, riesigen Metropole in 2300 Metern Höhe. Ob im äußersten Süden der Stadt, in den Barrios Pedregales – den in eine Steinwüste gebauten populären Stadtvierteln zwischen Aztekenstadion und Nationaluniversität – oder in den Reichenvierteln im Westen, ob im historischen Zentrum, in Tepito, oder in den östlichen Außenbezirken jenseits von Nezahualcóyotl, überall hat man morgens bei meist strahlendem Sonnenschein und noch nicht ganz so CO2-geschwängerter Luft den Eindruck, daß diese Stadt und ihre BewohnerInnen sich jeden Tag neu erfinden, ihren Arbeitsplatz aufsuchen oder sich einen neuen schaffen, welcher Art er auch sein mag. Langweilige Routine kann eigentlich nie aufkommen in dieser ständig pulsierenden Menschenagglomeration, die immer noch jeden Tag wächst, neue Gesichter in sich aufnimmt und damit auch ihren Gesamtkörper ständig verändert. Wie durch ein Wunder sind morgens nach der kurzen Erholungspause zwischen Mitternacht und fünf Uhr ihre Adern wieder sauber, kann der widersinnige Kampf gegen die Zeit wieder beginnen, wälzen sich Blechmassen durch die zu Asphalt gewordenen Kanäle des einstigen Tenochtitlán und weit darüberhinaus. Auch die auf leisen Gummisohlen daherkommenden U-Bahnen beziehungsweise deren Haltestellen erstrahlen jeden Tag in unschuldiger Sauberkeit, so als sei es das Normalste von der Welt, täglich neun Millionen Menschen von einem Ort zum anderen zu bewegen.
Es ist schier unglaublich, was alles wie funktioniert, ob Verkehr und Transport von Menschen und Waren, ob Strom- und Wasserversorgung oder Müllabfuhr. Dafür sorgt eine im doppelten Sinne gut geschmierte Stadtverwaltung, die nicht einem vernünftigen Entwicklungsplan folgt, sondern in ständigen Improvisationen auf unvorhergesehene Engpässe mehr oder weniger gelungen reagiert und so beinahe zwangsläufig wieder neue Engpässe schafft. Vor allem aber ist es der unerschöpfliche Erfindungsreichtum einer hochkomplexen Bevölkerung, der die 16-Millionen-Metropole bisher davor bewahrt hat, sich in internen Widersprüchen zu verzehren bzw. im destruktiven Chaos zu versinken. Und hier ist nicht zuletzt auch der hohe Anteil landlos gewordener indigener Bevölkerung zu nennen, die immer noch den höchsten Anteil der täglichen Zuwanderung vom Land in die Hauptstadt – natürlich auch in andere Städte und in den hohen Norden – ausmacht. Dabei handelt es sich nicht überwiegend um entwurzelte, ihrer Identität beraubte Individuen, sondern die Neuankömmlinge werden in der Regel sehr schnell in ein vielfältiges soziales Netz ethnischer Gemeinschaften aufgenommen, das dafür sorgt, daß zumindest ein Dach, Tortillas und ein paar Pesos zum Überleben in Aussicht stehen.
Die Stadt steht seit dem 6. Juli 1997 allerdings vor einem bedeutsamen Wendepunkt in ihrer Geschichte. Zum Zeitpunkt der Drucklegung wissen wir noch nicht, wer als Sieger der an diesem Tag erstmalig stattfindenden Bürgermeisterwahlen hervorgeht, in jedem Fall aber bedeutet die Durchführung dieser Wahl an sich schon einen Sieg für den erklärten Bürgerwillen und eine in ihren Konsequenzen schwer abschätzbare Niederlage für das hierarchische, zentralistische System des machtgewohnten Regierungsapparates der PRI. Mit einem Schlag wird ein Fünftel der auf engstem Raum lebenden Einwohner des gesamten Landes in einen demokratische Willensbildungsprozeß über die zukünftige Entwicklung dieser Stadt einbezogen, von dem sie bislang ausgeschlossen waren. Über die Dimension dieses Ereignisses werden wir uns bemühen, in den folgenden Ausgaben der ila weiter zu berichten. In diesem Heft ging es uns vor allem darum, einige Facetten dieses liebenswerten, in seiner derzeitigen Form aber unmöglichen Monsters zu beleuchten.