„20 Jahre danach“ war der Untertitel des ila-Schwerpunktes zu Chile im Sommer 1993. Noch immer ist jener 11. September des Jahres 1973, als die Soldateska unter General Pinochet gegen die sozialistische Demokratie der Unidad Popular putschte, das neuralgische Datum für Chile und die hiesige Solidaritätsbewegung. Damals wurden viele Hoffnungen zertreten: auf eine solidarische Gesellschaft, ein würdiges Leben für alle ChilenInnen, eine demokratische Organisation der Wirtschaft und auf eine Kunst und Kultur, die nicht allein Sache der gebildeten Elite ist. Ein für allemal? Das sicher nicht, aber doch für sehr, sehr lange Zeit.
Diese Ausgabe trägt keinen Untertitel, obwohl sich vom Erscheinungsdatum her „25 Jahre danach“ anbieten würde. Wir gehören sicherlich nicht zu jenen, die dafür plädieren, die Vergangenheit zu vergessen. Erst recht meinen wir nicht, daß irgendwann mal Schluß sein müßte, immer wieder in den alten Wunden zu rühren. Solange es noch Opfer und Angehörige gibt, bei denen die Wunden der Vergangenheit schmerzen, solange es noch TäterInnen gibt, die immer noch Macht ausüben und niemals für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen wurden, kann es kein Vergessen geben. Und im heutigen Chile erst recht nicht. Die Vergangenheit lebt weiter, auch solange es eine von der Diktatur diktierte Verfassung gibt, die u.a. garantiert, daß die schlimmsten Militärverbrecher als ernannte Senatoren im Oberhaus sitzen, politischen Einfluß haben und parlamentarische Immunität genießen.
Aber das Wachhalten der Erinnerung ist eine Sache, die Analyse der heutigen Situation eine andere. In der Solidaritätsbewegung herrschte lange das Bild vor, in Chile habe eine brutale Diktatur den Widerstand des Volkes mit der Macht der Bajonette unterdrückt. Erst mit der Zeit wurde uns klar, daß es mit der Dualität Volk –Diktatur so einfach nicht war. In der Solibewegung wurden alle EinwohnerInnen abzüglich der Oligarchie, dem Militär, der Begüterten und der aktiven Kollaborateure als Volk betrachtet. Das war aber natürlich keineswegs einig in seiner Ablehnung der Diktatur. Es waren Teile der Bevölkerung, Teile der ArbeiterInnen, des intellektuellen Mittelstands, der ElendsviertelbewohnerInnen, die gegen die Diktatur waren und sie unter großen persönlichen Risiken und Opfern bekämpften. Viele hielten still, arrangierten sich, nahmen mehr oder weniger verlockende Angebote an. Auch kapierten wir erst langsam, wie die ideologische Offensive die Menschen veränderte, wie das Vertrauen in die eigenen Kräfte, die Überzeugung, Subjekt der Geschichte zu sein und etwas bewirken zu können, langsam schwand. Und wie die Logik des Marktes vielen als die einzig mögliche Option erschien, als es dann nach Jahren des wirtschaftlichen Niedergangs ab 1983/84 ökonomisch wieder bergauf ging.
Während das Chile der Unidad Popular für uns ein Modell für eine sozialistische Demokratie war, riefen die Propagandisten der neoliberalen Konterrevolution ihrerseits Chile als Modell aus. Als Modell für – ja, für was eigentlich? Was „unser“ Modell Chile nie vermochte, nämlich zu einer politischen Option zu werden, die auch in anderen Ländern umgesetzt wird, scheint Ihnen zu gelingen.
Im November ruft die Chile-Solidaritätsbewegung zu einem Kongreß unter dem Thema „Neoliberalismus weltweit – 25 Jahre ’Modell‘ Chile“ auf. Im Aufruf zu dem Kongreß heißt es: „Zum ersten Mal ist ein ’Entwicklungs-Land‘ zum Modell für die Länder der Zentren geworden: Was in Chile politisch-ökonomisch in den letzten Jahren durchgesetzt wurde, wird jetzt bei uns Wirklichkeit. Darüber und über die Perspektiven gemeinsamer Gegenstrategien wollen wir im November mit LateinamerikanerInnen auf dem Kongreß arbeiten.“ (vgl. S. 30)
Wir denken, daß hier Perspektiven der Diskussion und Orientierung der Solibewegung genannt werden, die unbedingt weiterentwickelt werden müssen, wenn die Solibewegung wieder an Kraft und politischer Interventionsfähigkeit gewinnen soll. Wir hoffen, daß wir mit diesem Heft dazu beitragen.
Wir möchten allen herzlich danken, daß dieser sehr umfangreiche Chile-Schwerpunkt zustande kam. Besonders danken möchten wir Pedro Holz in Santiago, ohne dessen Einsatz es nicht funktioniert hätte.
P.S. Dieses Heft erscheint gleichzeitig als Nr. 196 (Mai/Juni 1998) der Zeitschrift „SOLIDARIDAD – Nachrichten und Meinungen aus Chile“ und geht ihren AbonnentInnen zu. Die ila-Redaktion grüßt an dieser Stelle ganz herzlich
die LeserInnen der SOLIDARIDAD und hofft, daß auch die Nicht-chilebezogenen Beiträge dieser Ausgabe ihr Interesse finden.