Was drängt Menschen zu einem Glauben, der von einem charismatischen Heilsprediger vermittelt wird, der zahllose „Wunderheilungen» vollbringt und die ZuhörerInnen machtvoll vereinnahmen kann? Sicherlich, die message des Heilers ist von höchster Einfachheit: Öffne Gott dein Herz und handele nach seinem Willen, dann wirst du gesunden, und der Heilsprediger hilft dir dabei.
Naturwissenschaftlich hieße das, die Vektorsumme allen menschlichen Handelns wird „gut», wenn alle Menschen sich Gottes Wort unterwerfen, ohne nachzudenken. Mensch darf dabei durchaus wohlhabend sein – Gott hat es gerne, wenn’s ihm gut geht. Die Welt wird aber so lange „schlecht» bleiben, solange es Menschen gibt, die Gottes Wort verachten. Würden alle Menschen sich gottgewollt verhalten, müßte sich überhaupt nichts ändern: Wohlstand bliebe Wohlstand und Armut Armut.So etwa sehen es – zumindest objektiv – Charismatiker und andere.
Daß eine solche Religion bei Wohlhabenden ankommt, leuchtet ein, daß aber auch – und gerade – arme Menschen an so etwas glauben, überrascht. Zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen wird es dann aber doch klarer. Die Leute haben kaum festen Boden unter den Füßen, ihre soziale Lage ist prekär, selbst das bescheidendste Einkommen steht morgen vielleicht schon zur Disposition, z.B. wenn die Währung um ein paar Prozent abgewertet wird oder irgendeine Entscheidung an irgendeiner Börse fällt. Ihren Kindern können sie kaum Perspektiven bieten. Sie haben erlebt, daß Linke und Basisgemeinden mit ihnen den Kampf für eine gerechtere Gesellschaft aufnehmen wollten. Die aber wollte nicht kommen, statt dessen tauchten immer wieder Militärs auf und verbreiteten Angst und Schrecken und brachten alle um, die sie für „Subversive» hielten.
Die machistisch sozialisierten Männer erleben sich nicht als die großen Zampanos ihrer Träume, sondern als kleine Würstchen, die herumgeschubst werden. Oft flüchten sie in den Suff und verwenden dafür den größten Teil des vorhandenen Geldes – Frauen und Kindern bleibt nichts. Und dann kommen die Prediger und erzählen, auch sie seien ohne jede Hoffnung oder sehr krank gewesen, hätten gesoffen und ihre Frauen geschlagen, doch dann hätten sie Gott entdeckt. Der habe ihnen den Weg gewiesen. Sie predigen die Vorzüge der gesitteten patriarchalischen Kleinfamilie. Diese verheißt den Männern Bestätigung und den Frauen etwas weniger Streß, denn ein frommer Pfingstler, der sich um die Familie kümmert, ist für sie allemal besser als ein gewalttätiger Suffkopp.
Die Kleinfamilie und die Pfingstlergemeinde tritt an die Stelle der sich auflösenden klassischen, horizontalen gesellschaftlichen Gehorsamsstrukturen und Bindungen wie Respekt vor der sozialen Gruppe, den Nachbarn, den ArbeitskollegInnen, dem Alter – also all jener, auf die man angewiesen war. An die Stelle der horizontalen Bindungen tritt ein einziger vertikaler Gehorsamsstrang: von der Familie zum Vater und von dort direkt zu Gott – kanalisiert über den charismatischen Führer, der als eine Art Sprachrohr des Heiligen Geistes das Ganze vermittelt, und zwar für alle.
Der real existierende Kapitalismus heutiger Gestalt ist ein idealer Nährboden für eine solche Entwicklung. Besitz wird konzentriert, die Armut verbreitert. Das gesellschaftliche Klima ist von Unsicherheit und Krisen beherrscht, die an den Individuen rüttelt. Auf vielen verschlungenen Pfaden versuchen sie, den Weg aus der Krise und neuen Halt zu finden. Sie sind hochgradig isoliert, vorbereitet auf solch einen Gott der Individualisten, der nur die „Guten» liebt, während er die „Schlechten» mit Nichtbeachtung straft. Kein rächender Gott mehr und kein Gott, der soziale Änderungen verlangt. Eine hochmoderne Religionsphilosophie im Schoße neoliberaler Wirtschaftsentwicklung?
Das Böse ist ausschließlich IN den Individuen. Was aber ist böse? Befreiungstheologen wagten, von „struktureller» Sünde zu sprechen. Gemeint damit ist die Tatsache, daß es unabhängig von den eingeschlagenen oder gar nicht betretenen Wegen der Individuen Markierungen und Begrenzungen gibt – von simplen Verhaltensnormen bis zu Besitzprivilegien -, die die Möglichkeiten des Einzelnen massivst beschneiden und deformieren. Das ist deutlich komplexer und gesellschaftlich nicht derart banalisiert wie bei vielen der neuen Glaubensbekenntnissen.
Es ist uns nicht leicht gefallen, uns dem Phänomen der Expansion neuer religiöser Bewegungen anzunähern und es zu verstehen. Wir haben uns bemüht, die sozialen und wirtschaftlichen Faktoren dabei ebenso mitzuberücksichtigen wie das Religiöse, das eben doch nicht so einfach wegzurationalisieren ist. Zumal nicht in einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der nirgendwo auf der Erde jemand noch ehrlichen Herzens von freien und frei gewählten Handlungsmöglichkeiten und Handlungsräumen sprechen kann.
P.S. Ein Teil der ila-LeserInnen (wohl überwiegend Leser!) wird in den nächsten Wochen Stunde um Stunde vor dem Fernseher verbringen und sich die Spiele der Fußball-WM reinziehen. Für sie, aber auch für die Fußball-GegnerInnen, denen der ganze Tamtam auf den Wecker geht, haben wir in dieser ila einen besonderen Leckerbissen: einen literarischen Essay des chilenischen Schriftstellers Omar Saavedra Santis über die verlorene Erotik des Fußballs. Ähnlich wie der Schwerpunkt das Universum der charismatischen Christen erhellt, erhellt dieser Text das Universum des lebendigen Fußballs.