„Was sind wir?“ Diese elementare Frage prägt die puertoricanische Politik ebenso wie die PuertoricanerInnen. Geht es um die schöne Insel und um deren Natur sind alle durch und durch puertoricanisch: Das schönste Meer, die grünsten Berge und der blaueste Himmel der Welt gehören zweifellos zu Borinquen, wie der vorspanische Name Puerto Ricos lautet. Ab hier aber wird es kompliziert: International existiert kein Land namens Puerto Rico. Einen puertoricanischen Paß gibt es nicht und auch keine puertoricanischen Auslandsvertretungen, weder eine Währung noch Briefmarken. Kommen PuertoricanerInnen mit ihrem US-Paß in andere Länder Lateinamerikas, müssen sie ihre politische Identität nur allzu oft mühsam erklären.
Noch komplizierter wird es, mit dem „Problem Puerto Rico“ in den USA konfrontiert zu werden. Wenige US-AmerikanerInnen haben eine klare Vorstellung davon, was Puerto Rico ist und in welchem Verhältnis sie zu den BewohnerInnen der Insel stehen. Dabei ist die Antwort einfach – und doch kompliziert. PuertoricanerInnen sind schlicht MitbürgerInnen. Aber: Puerto Rico ist weder Teil der USA noch ein unabhängiger Staat. Dieses Paradox hat mittlerweile Geschichte. Vor genau 100 Jahren hat die USA die Kolonie Puerto Rico von Spanien übernommen. Während des Kalten Krieges, vor allem nach der Eingliederung Cubas in den sozialistischen Block, wurde die Karibikinsel von den USA zum Militärstützpunkt und zum wirtschaftlichen Vorzeigeobjekt ausgebaut.
Der Kalte Krieg ist inzwischen vorbei, und in Zeiten der Globalisierung verliert Puerto Rico seine Bedeutung für die Kolonialmacht. Zwar wußten die USA noch nie so recht, was sie mit der Insel anfangen wollten, doch jetzt teilt Puerto Rico sein Schicksal als moderne Kolonie mit den französischen „territoires d’outre mer“: Die Kosten-Nutzen-Relation der Ausbeutung hat sich zu stark auf die Kostenseite hin verlagert. Zwar ist Puerto Rico für die USA militärisch noch immer attraktiv, die hohen Zuschüsse für die Kolonie aber sind den Finanzjongleuren in Washington zunehmend ein Dorn im Auge.
Wichtigste „Exportgüter“ der Kolonie sind nicht mehr Rohstoffe, sondern Menschen. Auf dem Festland der USA leben mittlerweile drei Millionen Menschen puertoricanischer Abstammung – oftmals Ziel rassistischer Anfeindungen. Puerto Ricos derzeitiger Gouverneur, der die Annexion der Insel zum 51. Bundesstaat der USA befürwortet, hat vor kurzem einen neuen Vorstoß gemacht, um sein Ziel zu erreichen: Bei den Feierlichkeiten am 25. Juli zum 100. Jahrestag der US-Invasion präsentierte er eine etwas barocke US-Flagge mit 51 Sternen (statt wie bisher 50). In konservativen US-Kreisen ist es schier unvorstellbar, den knapp vier Millionen spanischsprachigen Caribeñas/os einen eigenen Stern, geschweige denn einen eigenen Bundesstaat zuzugestehen. Sollen die Vereinigten Staaten etwa zweisprachig werden (was sie in weiten Teilen ohnehin schon sind)? Oder kommt gar eine „Balkanisierung“ über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten?
Am anderen politischen Ende steht die puertoricanische Unabhängigkeitsbewegung, die in den 70er und 80er Jahren mehr Sympathien im Ausland als im Inland erweckte. Schon lange fehlen ihr die Argumente gegenüber dem real existierenden ökonomischen Wohlstand. Ihr Hauptargument war und ist, daß Puerto Rico eine eigene Nation darstelle. Ideologische Argumente aber sind heute überholter denn je, und die Unabhängigkeitspartei hat große Schwierigkeiten, überhaupt ein Programm zu definieren. Um keine vollständige Bauchlandung zu erleiden, spricht man seit Jahren über eine Republik, die nach dem Modell der Marschall-Inseln in Mikronesien den USA assoziiert würde. Aber das reißt niemanden so recht vom Hocker.
Zudem fragten sich in der Vergangenheit viele auf Puerto Rico, wofür die Ehre nationaler Unabhängigkeit eigentlich gut sein soll, wenn diese von Armut und auch von Diktaturen begleitet wird, wie andernorts in Lateinamerika. Statt nationaler Identität und Unabhängigkeit haben die PuertoricanerInnen politische Stabilität und einen relativen Wohlstand genossen – wenn dies auch mit der Anpassung an die einseitigen Regelungen der USA erkauft wurden und sich hinter der hohen Kaufkraft wirtschaftliche Strukturprobleme versteckten, die stets mit Nahrungsmittelbons aus Washington gemildert wurden.
Wenngleich vieles auf Puerto Rico unklar ist, scheint eines sicher: Die Lage ist verzwickt. Und was machen PolitikerInnen in einer solchen Situation? Sie fragen manchmal die Bevölkerung. Auf Puerto Rico soll daher zum dritten Mal über die politische Zukunft der Insel abgestimmt werden. Bei den vorherigen Volksabstimmungen konnte sich das Volk allerdings nicht entscheiden. Auch gut. Dann wird eben weiter abgestimmt, werden lange Diskussionen geführt und Zeitungen gefüllt. Ganz egal aber, wie eine Entscheidung aussieht – wenn sie denn gefällt wird –, das letzte Wort dazu haben die Orakel von Capitol und Pentagon.