Unter den sozialen Bewegungen in Lateinamerika ist die der Indígenas heute vielleicht die lebendigste. Einerseits, weil sie viele unterschiedliche Kampfesformen verknüpft, um ihre Rechte zu erstreiten, und andererseits, weil sie es auch schafft, dem neoliberalen Kreuzzug und der staatlichen Indígena-Politik eigene Vorschläge entgegenzusetzen, um ihre grundlegenden Forderungen – Land bzw. selbstverwaltetes Territorium, Kultur und Autonomie – durchzusetzen. Ihre Rechte versuchen sie sowohl mit „direkten Aktionen“, wie Straßenblockaden, Besetzungen von öffentlichen Gebäuden, Demonstrationen u.ä. einzufordern, wie auch im ständigen Dialog oder meist Disput mit den Institutionen: Agrarreform-, Bildungs- oder Gesundheitsbehörden, den zuständigen „Indianer“behörden der einzelnen Länder.
Parallel zum Erstarken der Indígena-Bewegungen, die auf nationalem und internationalem Parkett zu nicht mehr übersehbaren Akteuren geworden sind, haben die lateinamerikanischen Staaten innerhalb von „Modernisierungs“- und Demokratisierungsprozessen dies bei Verfassungs- und Gesetzesänderungen zur Kenntnis genommen. Viele definieren sich heute offiziell als multikulturell und multiethnisch, erkennen auch indigene Sprachen als Muttersprache und das Recht auf zweisprachige Erziehung an.
Doch das Sichtbarmachen der indigenen Völker, was zum guten Teil dem zähen Kampf ihrer Bewegungen zu verdanken ist, hat nicht ihre objektive Situation verändert. Die Rechte der Indígenas stehen zwar auf dem Papier, sind aber lange nicht umgesetzt – das ist eine Schlußfolgerung, die sich aus den Beiträgen in dieser ila ziehen läßt. Konflikte sind da vorprogrammiert. Wenn Indígenas Land zugesprochen wird, dann nie das, was darunter liegt: die Bodenschätze. Und das Recht zu haben, zweisprachig und bikulturell erzogen zu werden, nützt den Indígenas nichts, wenn dies in den staatlichen Bildungsbudgets nicht entsprechend berücksichtigt ist und sie nach wie vor wenig Zugang zu höherer Bildung haben und auch deshalb – wenig in den staatlichen Erziehungsbehörden beschäftigt sind. Die selbstentwickelten und -verwalteten Bildungs-, Gesundheits- und Kulturprogramme, die von den indigenen Organisationen durchgeführt werden, werden zum größten Teil über die internationale private Entwicklungshilfe finanziert.
Relativ neu ist die partei-politische Partizipation von Indígenas, in mehreren Ländern haben sie politische Bewegungen gegründet, die sich in Allianz mit anderen sozialen Gruppen an Wahlen beteiligen oder, wie die EZLN, ihre Ziele über eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft durchzusetzen versuchen. Lokale und regionale Macht wird streitig gemacht, wenn Indígenas die BürgermeisterInnen oder Abgeordnetenposten besetzen. Der Kampf der Indígenas geht nicht nur um Selbstbestimmung in ihren eigenen Territorien. Es geht auch darum, mehr Druck auf den Staat ausüben zu können, der seinen Verpflichtungen gegenüber den Indígenas in neoliberalen Zeiten noch weniger nachkommt als zuvor. Bei der politischen Partizipation haben die Indígenas zwar Erfolge erzielt, sie sind aber auch nicht vor Entwicklungen gefeit, die wir aus eigener Erfahrung kennen. Die Beteiligung an der Macht verführt. Auch für Indígenas, die in Parlamenten sitzen, ist die Basis manchmal fern.
In diesem Schwerpunkt berichten wir über die Indígena-Bewegung in Ecuador, Kolumbien, Mexico, Chile und Brasilien – natürlich gibt es blinde Flecken. So haben wir keinen Beitrag über Peru oder Bolivien, in denen die Bevölkerung (noch) mehrheitlich aus Indígenas besteht und es sehr interessante Organisierungsprozesse gibt.
Eine der wesentlichen Forderungen der Indígenas in Lateinamerika ist die Anerkennung ihrer kulturellen Eigenheiten und ihres Andersseins in einer multikulturellen Gesellschaft. Darum muß freilich nicht nur in Lateinamerika gekämpft werden. In der BRD schürt die Rechte gegenwärtig erfolgreich rassistische Ressentiments gegen die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft für MigrantInnen, die hier geboren sind bzw. schon lange hier leben. Auch wenn die doppelte Staatsbürgerschaft nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluß ist – knüpft sie doch weiter die Garantie grundlegender Menschen- und Mitspracherechte für hier lebende Menschen an einen deutschen Paß –, bedeutet sie für viele ImmigrantInnen ein Stück Anerkennung und Sicherheit und erlaubt ihnen die politische Partizipation in der Gesellschaft, in der sie leben und die sie mit ihren Steuergeldern finanzieren. Wir wissen aus langer Erfahrung, daß die deutsche Sozialdemokratie das Rückgrat eines Gummibärchens hat, wenn es gilt, sich dem „gesunden Volksempfinden“ entgegenzustellen. Deshalb muß sie endlich auch Druck von der anderen Seite bekommen. Davon bekommt sie zwar noch kein Rückgrat, aber Druck von zwei Seiten kann Gummibärchen wieder geradebiegen.