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La Paz – der Frieden: immer ein Ziel, nie ein Zustand. Auch für die vielen tausend vom Land Zugewanderten, die sich von der bolivianischen Metropole ein friedliches Ein- und Auskommen erwarten und in dieser Erwartung häufig enttäuscht werden. Von den Alteingesessenen, der städtischen „Elite“, als unwillkommene Eindringlinge geringgeschätzt, benötigen sie die Neuankömmlinge doch wie die dünne Luft zum Atmen. Ihre Dienste sind unverzichtbar, als Hausangestellte, Schuhputzer oder „Ordnungshüter“. Die Spielregeln gleichen sich in sämtlichen lateinamerikanischen Metropolen, die SpielerInnen und Spielfelder unterscheiden sich allerdings.

Sucht man in der einschlägigen Literatur nach Informationen über La Paz, stößt man entweder auf die mehr oder weniger üblichen Tourismustips, oder La Paz wird als Schauplatz der nationalen bolivianischen Politik und deren Skandale beschrieben: La Paz ist zwar nicht die Hauptstadt des Andenlandes – das ist Sucre – wohl aber Regierungssitz. Der heute dort residierende Staatspräsident ist Hugo Banzer. Von 1971 bis 1978 war er als Führer einer Militärjunta für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Jetzt spielt er seit zwei Jahren die Rolle des geläuterten, da „demokratisch“ gewählten Staatsoberhauptes. In der Erzählung „Der Herr Präsident“ in der AusSprache (Seite 39) wird er von seiner Putzhilfe vorgestellt.

La Paz ist eine kleine Metropole: „Nur“ etwa 1,8 Millionen Menschen leben auf den drei Plateaus, die normalerweise als La Paz bezeichnet werden: El Bajo, La Cuenca und El Alto – das Tal unten, ein Talkessel in der Mitte und die Oberstadt. Wie in vielen Stadtregionen Lateinamerikas ist auch im Großraum La Paz die EinwohnerInnenzahl in den letzten Jahrzehnten durch Landflucht, Abwanderung aus den niedergehenden Bergbauregionen und Bevölkerungswachstum stark angestiegen. Anlaufstationen für die MigrantInnen bildeten vor allem die Armenviertel von El Alto, das qua Verwaltungsreform im Jahr 1985 zu einer eigenständigen administrativen Einheit erklärt wurde. Für La Paz ein lohnendes Geschäft: Die billigen Arbeitskräfte des Alto standen und stehen den besser situierten unteren Stadtteilen weiterhin zur Verfügung, gleichzeitig konnte man dem Stadtsäckel die Kosten für Infrastrukturmaßnahmen wie Trinkwasserversorgung oder Straßenasphaltierung ersparen. Und die Kommune El Alto hat für solchen Luxus kein Geld. Das Ergebnis: eine anonyme, unwirtliche Stadtlandschaft, in der die mittlerweile 800 000 BewohnerInnen versuchen, das Überleben zu organisieren und dabei ihre kulturelle Identität zu wahren. Für Pittoreskes zur Erbauung der TouristInnenaugen bleibt da nicht viel Raum.

Ist die Rede von La Paz, wird El Alto meist bewußt ignoriert oder leise übergangen. Im Unterschied dazu versuchen wir mit dieser Ausgabe, La Paz und El Alto gemeinsam in den Blick zu nehmen. Denn in Realität könnte die eine Stadt ohne die andere nicht existieren. Und bei näherem Hinsehen bekommt das häufig idyllisch gezeichnete Bild von La Paz Kratzer: Zu sehr ist die Stadt gebeutelt von Umweltproblemen, Korruption und sozialen Gegensätzen.