In zahlreichen Städten und Gemeinden Lateinamerikas haben in den vergangenen Jahren alternative Bündnisse und Listen die Mehrheiten bei lokalen Wahlen gewonnen und stellen BürgermeisterInnen und Kommunalverwaltungen. Das Spektrum dieser alternativen Bündnisse ist sehr breit: Es reicht von Zusammenschlüssen traditioneller Linksparteien über neue politische Organisationen, ehemalige Guerillagruppen, überparteiliche Bürgerbewegungen bis hin zu indigenen Listen, die auf die traditionellen Organisationsformen der indigenen Gemeinschaften zurückgehen. So unterschiedlich Charakter und Ansätze dieser Bewegungen freilich sein mögen, eint sie doch der Wille, auf kommunaler Ebene Alternativen zu einer gesamtstaatlichen Regierungspolitik zu entwickeln, die aus ihrer Sicht allzu häufig den Interessen weniger wirtschaftlicher Machtgruppen dient.
In dieser ila versuchen wir, die bisherigen Erfahrungen alternativer Kommunalpolitik in Lateinamerika in ihren Stärken und Schwächen darzustellen. Folgende Leitfragen waren in diesem Zusammenhang für uns von Interesse: Mit welchen Programmen und Zielvorgaben sind alternative Wahlbündnisse angetreten? In welchen Bereichen versuchen sie prioritär, politische Alternativen zur Politik ihrer VorgängerInnen zu entwickeln? Wie sehen diese Alternativen aus und wie werden sie von der jeweiligen Bevölkerung angenommen? Welche neuen Formen politischer Partizipation wurden/werden entwickelt? Wie schnell und in welchem Umfang werden alternative Kommunalbündnisse von traditionellen „Krankheiten» wie Bürokratismus oder Korruption infiziert, und welche Mittel gibt es, diese Übel zu bekämpfen oder einzudämmen? Wie gestalten sich die Beziehungen alternativer Kommunalverwaltungen zu den meist konservativen Zentralregierungen?
Natürlich kann ein ila-Schwerpunktheft solche Fragen nicht erschöpfend beantworten. Aber es kann einige wichtige Aspekte anhand der bisher gemachten Erfahrungen beleuchten. Wichtig war es uns dabei, eine gewisse Bandbreite von Beispielen aufzunehmen. So berichten wir nicht nur über Metropolen, sondern auch aus Mittelstädten und ländlichen Gemeinden.
Die ila 239 unternimmt eine Reise quer durch Lateinamerika: Wir beginnen in Mexico-Stadt, gehen über Morelia in Chiapas nach Quetzaltenango in Guatemala und weiter nach San Salvador. In Venezuela vergleichen wir die beiden Städte Caracas und Caroní. Über eine Gemeinde im andinen Hochland Boliviens, die von einem elfjährigen Bürgermeister regiert wird, kommen wir nach Brasilien. Dort berichten wir aus zwei Millionenstädten, die im ganzen Land als Modelle einer erfolgreichen Kommunalpolitik der linken Arbeiterpartei PT gelten: Belém im Norden am Amazonas und Porto Alegre im äußersten Süden. Von dort ist es dann nicht mehr allzu weit in die uruguayische Hauptstadt Montevideo, wo unsere Erkundungsreise endet.
Die Erfahrungen linker und alternativer Gruppen in den genannten Städten und Gemeinden sind unterschiedlich: Neben erfolgreichen Projekten, die auf große Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen, gibt es auch immer wieder Rückschläge, wo es linken Stadtregierungen nicht gelingt, deutlich andere Akzente zu setzen, und sie dadurch ihre politische Attraktivität und letztlich auch Glaubwürdigkeit verlieren. Aber insgesamt sind die Erfahrungen durchaus positiv und belegen, dass die Linke auch oder gerade in den Zeiten des Neoliberalismus durchaus funktionierende alternative Politikkonzepte entwickeln kann. Ob diese letztendlich umgesetzt werden können, liegt nur zu einem ganz kleinen Teil am guten Willen der linken BürgermeisterInnen und Stadträte. Es hängt ganz entscheidend von den verfügbaren materiellen Ressourcen ab, wie die Bevölkerung organisiert ist und inwieweit die gewählten RepräsentantInnen in der Lage sind, die organisierte Bevölkerung ernst zu nehmen und sie tatsächlich – und nicht nur rhetorisch – in die politischen Entscheidungsprozesse einzubeziehen. In dem Maße, wie dies gelingt und die Organisierung erweitert und vertieft werden kann, wird es möglich sein, mehrheitsfähige neue Politikformen zu entwickeln, aus denen auch gesamtgesellschaftliche Alternativen erwachsen können. Wie viele Beiträge dieser Ausgabe zeigen, sind hoffnungsvolle erste und oft auch schon weitere Schritte gemacht!
Titelfoto unter Verwendung eines Fotos von Antonio Turok aus „Imágenes de Nicaragua»