„Haben Sie sich heute schon distanziert?“ Die Älteren von uns kannten das Ritual noch, das in der Bundesrepublik vor einigen Wochen neu aufgeführt wurde: „Was, Sie wissen nicht warum und wovon? Dann sind also auch Sie ein geistiger Gewalttäter!“Wir fühlten uns äußerst unangenehm an die „bleiernen“ 70er Jahre erinnert, an Gesinnungsschnüffelei und Terroristenhetze, die lediglich den Sinn hatten, kritisches Denken zu deckeln.
Aber bei genauerem Hinsehen stimmt diese Parallele nur halb.Zwar gibt es die gleiche inquisitorische Form, werden Unterwerfungs- und Distanzierungsrituale abgefordert. Und Aussagen wie Angela Merkels „Der Staat hat keine Fehler gemacht“ oder Jürgen Rüttgers’ „Die Adenauer-Zeit war keine muffige und reaktionäre Zeit“ versuchen, jedwedem eigenen Nachdenken von vornherein die Legitimität zu nehmen und es so in die Nähe von Militanz, Gewalttat, Terrorismus zu rücken. Doch anders als 1977 ergreifen die meisten Kommentare heute Partei für die geläuterten Militanten: Fischer, Trittin, die 68er überhaupt, seien inmitten dieser Gesellschaft angekommen; das sei eine „demokratische Erfolgsgeschichte“ (Rezzo Schlauch). Endgültig bewiesen haben sie diese Integration in die politische Klasse mit ihrer Haltung zum Jugoslawien/Kosovo-Krieg, so nicht nur Heiner Geißler. Wer deutsche Soldaten unter Bezugnahme auf Auschwitz zum dritten Mal in einem Jahrhundert zum Angriff auf Serbien schickt, hat in der Tat seinen Frieden mit Deutschland und seiner Geschichte gemacht.
Selbstredend ist jeder Einschluss auch ein Ausschluss: Draußen vor der Tür bleiben all die Opfer dieser deutschen Erfolgsgeschichte der letzten 30 Jahre. Das Leben radikaler, linker GegnerInnen galt diesem Staat häufig nicht viel, noch weniger das unerwünschter AusländerInnen, seien sie schon im Land oder versuchten sie erst, es zu erreichen. Staatliche Gewalt- und Tötungshandlungen an der EU/BRD-Ostgrenze erreichen leicht die Dimension des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“. Die heimliche oder offene Unterstützung vieler autoritärer, terroristischer Regime überall auf der Welt war und ist gängige Praxis.
Keineswegs wollen wir einer bedingungs- und kopflosen Militanz das Wort reden. Aber die Fähigkeit, an den beschriebenen Verhältnissen zu leiden und dieses Leiden – auch in radikalen Formen – auf die Straße zu tragen, ist ein Ausdruck politischer Reife und Kultur. Passiver Widerstand (von den Herrschaften zur „Gewalt“ umdefiniert) gehört dazu ebenso wie Demos, Streiks. Und wen hätte es ehrlich gewundert, wenn als Reaktionen auf den Bombenterror in Jugoslawien Steine gegen die Bombenwerfer geflogen wären? Uns wundert, dass keine geflogen sind.
Dass es andere Formen gibt, mit Vergangenheit von Hass, Repression, Ausschluss und Niederlagen umzugehen, zeigt sich derzeit in Mexico. Mit ihrer Ankündigung, ab dem 25. Februar einen Marsch in die Hauptstadt zu beginnen, hat die EZLN wieder einmal die Initiative ergriffen. Schon ihr Auftreten am 1. Januar 1994 führte ein neues Element in die Politik ein. Da war nicht nur einfach eine weitere Guerilla entstanden, da gab es Bereitschaft innezuhalten, nachzudenken, neu zu verstehen. Da gab es starke Signale in die gesamtstaatliche „Zivilgesellschaft“ und trotzdem eine scheinbar unüberwindliche räumliche und politische Isolation. Ist die EZLN nur deshalb nicht in die politische Klasse Mexicos integriert, weil diese ihr die Aufnahme verweigert? Oder ist hier eine politische Kraft entstanden, die nur integrierbar wäre zum Preis einer zumindest punktuellen neuen Politik? Einer Politik des sozialen und kulturellen Ausgleichs, der friedlichen Konfliktlösung, der Anerkennung des Andersseins und -denkens?
Nicht nur diese Frage, die gesamte Situation in Mexico ist augenblicklich schwer einzuschätzen. Ist es doch ein sich in der Form seiner Selbstvermarktung zwar „modern“ gebender, aber doch erzkonservativer, den Interessen des großen Kapitals verpflichteter Präsident, der Bewegung in die mexicanische Politik gebracht hat. Welche Kraft hat die lange stumme EZLN wirklich noch? Was ist von der „Zivilgesellschaft“ zu erwarten? Wird die Linke in Mexico eine Rolle spielen können? Ohne wirklich Antworten darauf geben zu können, wären wir froh, wenn sich mehr Menschen in der BRD solche Fragen stellen würden und nicht die, ob Bomben werfen darf, wer mal mit Polizisten rangelte.