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São Paulo

Gesichter einer Metropole

São Paulo – Etwas passiert in meinem Herzen
Wann immer ich die Ecke Ipiranga/Avenida São João kreuze
Als ich hier ankam
Hab ich nichts verstanden
Von der harten konkreten Poesie deiner Straßen
Deinen diskret uneleganten Mädchen
Da kannte ich Rita Lee
[fn]Brasiliens bekannteste Rockmusikerin, in den sechziger Jahren Kopf der Gruppe Mutantes[/fn] noch nicht
Etwas passiert in meinem Herzen
Wann immer ich die Ecke Ipiranga/Avenida São João kreuze

Als ich dir Auge in Auge gegenüberstand
Konnte ich mein Gesicht nicht erkennen
Ich nannte das schlechten Geschmack
Was ich an schlechtem Geschmack sah, schlechter Geschmack
Narziss findet alles hässlich
Was kein Spiegel ist
Und der Kopf erschreckt
Vor dem was noch nicht wirklich alt ist
Was es vorher nicht gab
Wenn wir keine Mutanten sind.
Du warst ein schwieriger Anfang
Was ich nicht kenne, schiebe ich weg,
Wer aus einem anderen glücklichen Stadttraum kommt
Lernt schnell, dich Realität zu nennen
Denn du bist die Kehrseite der Kehrseite
Der Kehrseite der Kehrseite
Des unterdrückten Volkes in den Schlangen,
Den schönen Stadtteilen, den Favelas
Der Kraft des Geldes, die schöne Dinge aufbaut
Und zerstört
Des hässlichen Rauchs, der aufsteigt
Und die Sterne auslöscht
Ich sehe deine Poeten auftauchen 
Aus den Feldern und Räumen 
Deine Werkstätten von Wäldern
Deine Götter aus dem Regen
Panamerikas aus utopischen Afrikas
Aus der Welt der Samba
Ist ein neuer Quilombo von Zumbi möglich
Die neuen Bahianer
Gehen in deinem Nieselregen spazieren
Und die neuen Bahianer können dich ganz locker genießen
[fn]Übersetzung: Laura Held und Gerhard Dilger[/fn]

Dieses Lied von Caetano Veloso umschreibt die Ambivalenz, die viele empfinden, die sich irgendwann einmal mit der Stadt São Paulo konfrontieren. Beim ersten Eindruck gibt es eigentlich kaum etwas, was einen für diese Stadt gewinnen könnte: weder das Meer und die Strände von Rio noch die Mischung aus Verrücktheit und Melancholie von Buenos Aires, nicht die pulsierende Langsamkeit Havannas und auch nicht die geschichtsträchtige Atmosphäre Mexicos. Natürlich lauern hinter den Postkartenfassaden der genannten Städte Armut, Angst, Gewalt, nervenzehrender Verkehr und die ganze Latte ökologischer Probleme, aber São Paulo hat nicht einmal eine Postkartenfassade. Es sei denn, man findet es spannend, an einem Ort zu sein, in dem man Gelegenheit hat, die Luft, die man atmet, auch sehen zu können – so eine der vielen Boshaftigkeiten, die die Cariocas, die BewohnerInnen von Rio de Janeiro, gerne über die ungeliebte Konkurrenzmetropole zum Besten geben.

Und trotzdem hat São Paulo etwas – etwas, das Caetano Veloso „harte konkrete Poesie“ nennt. Es ist nicht die Größe der Stadt, in der so viele Menschen leben wie in ganz Zentralamerika, es ist auch nicht die Wirtschaftskraft, die die von Zentralamerika sicher deutlich übersteigt, es ist auch nicht die Skyline, die es mit jeder Metropole der Welt aufnehmen kann. Es ist die ungeheure Lebendigkeit dieser Stadt, einer Stadt, die trotz aller Widrigkeiten voller Hoffnung steckt. Wie ein Magnet zieht São Paulo seit fast 100 Jahren Menschen aus allen Teilen der Welt an, sei es aus Europa, aus Asien, aus Lateinamerika oder dem armen Nordosten Brasiliens. Sie alle wollen hier ihr Glück machen. Gerufen wurden die MigrantInnen selten. Manchmal wurden Arbeitskräfte gebraucht. Aber auch wenn keine gebraucht wurden, kamen viele und mussten sehen, wie sie zurecht kamen, viele mehr schlecht als recht. Aber sie sind da und sie sind Paulistas bzw. Paulistan@s – die AutorInnen unseres Schwerpunktes sind sich nicht so einig, wie die korrekte Bezeichnung der EinwohnerInnen lautet. Sie prägen das Bild einer Stadt, die sicher einmalig ist. Wir laden die ila-LeserInnen ein, sich davon zu überzeugen.

Wie die meisten unserer Hefte wäre auch diese ila ohne massive externe Hilfe nicht zustande gekommen. Ganz besonders danken wir diesmal Gerhard Dilger, der in São Paulo den Schwerpunkt koordiniert und einen großen Teil der Beiträge organisiert hat. Ein großes Dankeschön geht auch an Ray-Güde Mertin und an Zé do Rock, die uns viele wichtige Hinweise gegeben, Kontakte vermittelt und uns bei kniffligen Übersetzungsfragen unterstützt haben.


Schwerpunkt

4  Die Hauptstraße
Die Avenida Paulista als Spiegel der Entwicklung der Stadt
von Giselle Beiguelmann

8  Das Laboratorium
Die Geschichte der Stadt São Paulo
von Nicolau Sevcenko

12  Von den Anden nach São Paulo
Koreanische, bolivianische und peruanische MigrantInnen in Brasiliens Wirtschaftsmetropole
von Alberto Ruiz Lazo

17  Er hat es verdient zu sterben
Gewalt und Morde in den Außenbezirken der Metropole
von Bruno Paes Manso

20  Die Hälfte der Stadt
Das weibliche Gesicht von São Paulo
von Maria Amélia de Almeida Teles

22  Parque Industrial
Die Autorin Patrícia Galvão (Pagu) veröffentlichte 1933 einen „proletarischen Roman“
über São Paulo  / von Ray-Güde Mertin

24  Esmeralda – warum bin ich nicht draufgegangen?
Aufzeichnungen vom Leben auf der Straße in São Paulo
von Susanne Umnirski-Gattaz

26  Raus aus der Intensivstation
Marta Suplicy – Die Hoffnungsträgerin im Amt
von Gerhard Dilger

27  Die Paulistas
Macht und Ohnmacht der Linksintellektuellen
von Stephan Hollensteiner

30  Marcelo Rossi Superstar
São Paulo ist die Hochburg der charismatischen KatholikInnen
von Gerhard Dilger

30  São Paulo/Brasil
Miniaturen von Fernando Bonassi

33  Rio ist ein Feiertag – São Paulo ist ein Montag
Die ewige Rivalität der zwei brasilianischen Metropolen
von Arnoldo Jaboa

34  Ein tüchtiger Handwerksstand fehlt hier fast ganz
Eine deutsche Erzieherin im São Paulo von 1882
von Ina von Binzer

37  Einige Hinweise die Organisation betreffend, die das System in der Stadt errichtet hat, um Ordnung und Fortschritt in die Straßen zu bringen
Aus „Kein Land wie dieses“ von Ignácio de Loyola Brandão

Berichte & Hintergründe

39  Brasilien und die Aids-Pillen
Lebensrecht für Kranke contra Profitinteressen der Pharmamultis
von Gaby Weber

42  Es gibt Leute, die Bescheid wissen
Uruguay: Interview mit Sara Méndez über die Suche nach ihrem entführten Sohn Simón
von Britt Weyde

45  Der Folterscherge
Vor einem Jahr wurde der Argentinier Ricardo Miguel Cavallo in Mexico verhaftet
von Gerold Schmidt

46  Weiß und Schwarz gegen Braun
Linker Latino scheiterte an einer rassistischen Gegenmobilisierung bei Bürgermeisterwahl
in Los Angeles  / von Michael Hahn

Eine Welt Wirtschaft

48  ALCA für Dollarabhängige
Der Mercosur vor dem Aus?
von Joachim Becker

51  Beharrung und Wandel
Eine Politische Ökonomie Brasiliens
von Joachim Becker

Ländernachrichten / Poonal

52  Kolumbien, Ecuador, Honduras, Guatemala, Peru, Bolivien, Argentinien

Kulturszene

55  Bread and Roses
Ein Film von Ken Loach über den Kampf lateinamerikanischer ImmigrantInnen in Los Angeles
von Peter Nowak

Solidaritätsbewegung

56  „Dialog“ oder „direkte Aktion“
Gelingt dem Establishment nach Göteborg wieder die Spaltung der GlobalisierungskritikerInnen?
von Christian Losson

58  Die Politik des Verschleierns
Das „Thema Argentinien“ auf der Aktionärsversammlung von DaimlerChrysler
von Gaby Weber

60 Menschenrechte kontra Ökonomie
Proteste gegen Abschiebung auf Lufthansa-Aktionärsversammlung
von „kein mensch ist illegal“

61  Globalisierung von unten
Buchbesprechung
von Werner Rätz

62  Notizen aus der Bewegung, Leserbriefe Zeitschriftenschau, Impressum