Vierzig Jahre Einwanderung nach Deutschland – in diesen Tagen wird mit gönnerhaftem Multikulti-Gestus des ersten Anwerbe-Abkommens für „Gastarbeiter“ aus der Türkei gedacht. Lange wurde auf sie herabgeschaut. Sie galten als Knoblauch-Fresser und machten die Arbeit, für die sich die Deutschen zu fein waren. Von politischer und sozialer Gleichheit sind sie auch heute noch weit entfernt, wenngleich sie zumindest gewisse einklagbare Rechte haben.
Es gibt aber in diesem Land eine Gruppe von Menschen, die praktisch in völliger Rechtlosigkeit lebt: die Menschen ohne Papiere, d.h. die, die ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in diesem Land sind. Damit sie nicht auffallen, versuchen die OhnePapiere sich so angepasst wie möglich zu verhalten. Jeglicher Kontakt mit Behörden wird gemieden, so dass Krankheiten nicht behandelt, Kinder nicht zur Schule geschickt, einbehaltene Löhne nicht eingeklagt werden können. Ganze Wirtschaftszweige werden von der entrechteten und überausgebeuteten Arbeitskraft der OhnePapiere getragen.
Die Bezeichnung der Menschen, die ein Leben in der Illegalität führen müssen, ist in Europa sehr unterschiedlich. Die Sprache der anderen bringt die Beurteilungsweise der eigenen plastisch zum Ausdruck. „Irregular migrants“ oder „undocumented persons“ heißen sie in den anglophonen Staaten, im französischen und spanischen Sprachraum sind es die „sans papiers“ bzw. „sin papeles“ und im Italienischen die „clandestini“. In Deutschland werden sie meist „Illegale” genannt und so in die Nähe von Kriminellen gerückt. Und genauso werden die OhnePapiere behandelt. Polizei und Bundesgrenzschutz machen in Bahnhöfen, Zügen und Innenstädten mit dem Allround-Instrument „verdachtsunabhängige Kontrollen“ Jagd auf sie. In rassistischer Manier werden natürlich nur solche Leute kontrolliert, die „anders“ aussehen.
Die so genannte „Zuwanderungsdebatte” erkennt zwar halbherzig an, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Doch besteht kein Grund, darin eine progressive Wende zu sehen. Aus der alten Forderung nach einem Einwanderungsgesetz wurde unter Innenminister Schily ein Gesetzesvorschlag, der EinwanderInnen nur danach beurteilt, ob sie dem „Standort Deutschland“ nützen. Solange aber Wohlstand und Ressourcen auf der Welt ungerecht verteilt sind, wird und muss es Wanderungsbewegungen geben. Und die Abschottung der privilegierten Länder drängt diese Migration in „illegale“ Formen ab. Scharfmachern wie Schily fördern die Illegalität. Sein Zuwanderungs-Steuerungs-Gesetz schafft genau dies. Der Status der Duldung soll abgeschafft werden, bei Abschiebehindernissen sollen die Betroffenen in so genannten Ausreisezentren untergebracht werden, verniedlichende Ausdrucksweise für Abschiebeknäste oder gar Internierungslager. Dass auch das Asylbewerberleistungsgesetz eingeschränkt und das Nachzugalter für Kinder von 16 auf 14 Jahre herabgesetzt werden soll, fällt da schon fast nicht mehr auf.
Angeblich hat Schily inzwischen kleine Zugeständnisse gemacht, wie die Anerkennung von nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung. Doch der repressive Kern bleibt. Ganz zu schweigen von den nach dem 11. September durchgepeitschten Sicherheitspaketen, die alle „AusländerInnen“ unter Generalverdacht stellen. Deren Erfassung und Überwachung, u.a. seit Jahren vom Ausländerzentralregister in Köln betrieben, wird in Zukunft noch größere Ausmaße annehmen.
MigrantInnen sind Menschen, die dort, wo sie herkommen, nicht mehr leben können. Was es für illegalisierte LateinamerikanerInnen bedeutet, ein Leben ohne Papiere in Deutschland führen zu müssen, möchten wir in diesem Heft zeigen. Dabei haben wir versucht, den Terminus „illegal” zu vermeiden, denn – darauf bestehen wir – kein Mensch ist illegal! Und – auch wenn die weltpolitische Konjunktur immer unbarmherziger wird – wir unterschreiben die politische Forderung, die es auf den Punkt bringt: „Gleiche Rechte und Papiere für alle!“
P.S. Diese Ausgabe ist die 250. (zweihundertfünfzigste) ila. Das ist gleichzeitig auch unser 25jähriges Jubiläum als Zeitschrift. Wir haben diesmal kein Sonderheft zusammengestellt, sondern eine reguläre ila, die zeigt, was uns seit der ersten Ausgabe wichtig ist: Lateinamerika ist nicht weit weg – und vieles, worunter LateinamerikanerInnen leiden, hat seine Ursachen in den politischen und ökonomischen Machtverhältnissen bei uns. Das gilt für die OhnePapiere ganz besonders. Auf den ila-Festen und -Veranstaltungen der ersten Jahre ertönte fast immer auch das politische Lied aus Lateinamerika schlechthin: Daniel Vigliettis „A desalambrar“ – Reißt die Mauern nieder. Diese Aufgabe besteht mehr denn je!