In einem entlegenen Winkel der Republik Uruguay – so ein Bericht – kam der Befehl eines Viehzüchters zu trauriger Berühmtheit: Jeder „Turco“, der sich in die Nähe seines Anwesens wagte, sollte getötet und seine Leiche mit Steinen beschwert in einer Lagune versenkt werden. Das Gewässer heißt auch heute noch „Laguna de los Turcos“. Der Mörder eines fahrenden Händlers wurde vor Gericht gefragt: „Warum haben Sie den Libanesen umgebracht?“ „Weil er zu Fuß unterwegs war“. Ein Mann auf dem Land ohne Pferd war in Uruguay zu jener Zeit eine äußerst „befremdende“ Erscheinung. „Hatten Sie nicht noch ein anderes Motiv, ihn umzubringen?“ fragte der Richter. „Es gibt so viele von ihnen und ihre Zahl muss verringert werden.“ Geschichten solcherart gibt es etliche in Lateinamerika. Im Gegensatz zum „modernen Deutschland“ sind sie in Lateinamerika aber glücklicherweise meistens Geschichte. ila goes History? Ja und nein.
Bei Migrationsthemen hilft immer der Blick zurück, um bestimmte Phänomene zu erklären. Phänomene, die leider nicht aussterben wollen und die – lokal modifiziert – in den verschiedensten Gesellschaften auftauchen. Die Anekdoten aus dem Uruguay um 1900 zeigen, dass ImmigrantInnen in Einwanderungsländern schon immer eher unfreundlich empfangen wurden. Struktureller Rassismus auf Seiten des Staates, xenophobe Einstellungen und Vorurteile auf Seiten der Bevölkerung gehen dabei Hand in Hand: Egal ob per Gesetz bestimmten Menschen die Einwanderung explizit verboten wurde – z.B. AfrikanerInnen und AsiatInnen in viele Länder Lateinamerikas –, ob politisch unliebsame Störenfriede abgeschoben wurden – z.B. italienische AnarchistInnen Anfang des 20. Jahrhunderts in Argentinien –, ob hinter vorgehaltener Hand die schlimmsten Schauermärchen über die „Orientalen“ verbreitet wurden oder ob, wie in oben geschilderter Geschichte, vor rassistischen Morden nicht zurückgeschreckt wurde – immer wieder betrachteten Staaten und StaatsbürgerInnen ihr eigenes Land als eine vom Weltgeschehen abgekoppelte Insel, die es vor Eindringlingen zu schützen galt. Ein hoch aktuelles Thema, wie in Deutschland beim Theater um das „Gesetz zur Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung“ gerade vorgeführt wird.
Migration ist ein wesentlicher Motor gesellschaftlichen Wandels. Teile der antirassistischen Bewegung hierzulande sehen gar ein subversives Element in selbstbestimmter Migration. Die legitime Suche nach einem besseren Leben wird damit ein Politikum. Der Schwerpunkt unserer aktuellen Ausgabe, „Los Turcos – AraberInnen in Lateinamerika“, klingt auf den ersten Blick exotisch. Mit „Turcos“ benutzen wir den in Lateinamerika gängigen Begriff für AraberInnen oder Menschen mit arabischen Vorfahren – Türkischstämmige gibt es nur sehr wenige. Menschen aus Syrien, Libanon, Palästina oder Armenien und deren Nachfahren als „Turcos“ über einen Kamm zu scheren, ist natürlich nicht nur begrifflich falsch, sondern auch eine platte ethnische Zuschreibung. Dieser Name hat historische Gründe (zur Zeit der ersten EinwanderInnen gehörten alle genannten Herkunftsländer zum Osmanischen Reich), sagt aber auch viel über das Bedürfnis aus, Menschen einzuordnen, Identitäten zu konstruieren und festzuklopfen. Dieses Bedürfnis ist natürlich vor allem bei den Alteingesessenen vorhanden (vor allem dann, wenn sie der „Ethnie“ der Herrschenden angehören). Doch auch identitäre Selbstzuschreibungen sind gang und gäbe. Entweder weil die Zuschreibungen irgendwann geschluckt werden oder um aus Stolz, Trotz und Selbstschutz eine „Heimat“ in der community zu finden.
Über bzw. von lateinamerikanischen „Turcos“ war in der ila schon allerlei zu lesen, allerdings spielte dabei ihre Herkunft selten eine Rolle: beim argentinischen Präsidenten Carlos Saul Menem ebensowenig wie beim salvadorianischen Guerillakomandanten Shafik Handal, auch nicht beim argentinischen Filmproduzenten Enver al Khadri oder den beiden aus dem Amt gejagten ecuadorianischen Präsidenten Bucaram und Mahuad. Nur der brasilianische Schriftsteller Milton Hatoum und unsere Kolumnistin Esther Andradi haben in Interviews bzw. Texten über ihre arabischen Hintergründe gesprochen. Bei der Recherche für diesen Schwerpunkt stießen wir auf Parallelen zu hiesigen Vorgängen und Debatten. Und auch in Lateinamerika sind seit dem 11. September 2001 anti-arabische Tendenzen neu hervorgebrochen, die uns nur zu bekannt vorkommen.
Keinesfalls wollen wir den rassistischen Normalzustand unseres Landes relativieren oder gar verniedlichen. Vielmehr soll der bekannte Blick über den Tellerrand dazu dienen, die Entstehung von Identitäten zu beleuchten und zu hinterfragen. Damit irgendwann vielleicht doch einmal klar wird, dass Ethnisierung, Rassismus, Vorurteile und bipolares Denken abgeschafft gehören.
Hoffentlich. Ojalá. Inschallah.