Theologie der Befreiung als Schwerpunktthema, das ist doch tote Hose“, so die spontane Reaktion eines ila-Mitarbeiters, als wir nach 1979 und 1993 (ila165) nun zum dritten Mal ein Heft zu diesem Thema anvisierten. Gibt es keine wichtigeren Themen? Die Begeisterung für diese „neue Art“, Theologie zu betreiben, ist längst abgeflaut, die Zeiten, als die Befreiungstheologie noch eine Herausforderung und gleichzeitig eine Hoffnungsquelle auch für ChristInnen in Europa war, scheinen vorbei. Doch nur eine Modeerscheinung? Wir denken, nein. Diese befreiende Theologie war die Antwort auf die gesellschaftliche Situation der sozialen Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Machtwillkür in fast allen Staaten Lateinamerikas. Und diese durch Armut und Ausgrenzung bestimmte Situation hat sich im Vergleich zu 1972 weiter verschärft. 1972 war das Erscheinungsjahr des mittlerweile zum Klassiker gewordenen Buches von Gustavo Gutiérrez „Teología de la Liberación“.
Und die gesamte Dekade der 70er war eine Zeit der Hoffnung: In Vietnam wurde eine Supermacht besiegt, die FSLN in Nicaragua stürzte die Somoza-Diktatur und in Brasilien und El Salvador erblühten die christlichen Basisgemeinden. Aufbruchstimmung im Süden, aber auch in den Industriestaaten des Nordens. Weniger allerdings bei den Herrschenden. Hatten die USA schon in den Siebzigern kräftig mitgemischt bei der Errichtung diverser Diktaturen in Lateinamerika, so starteten sie seit 1981 gegen alle Emanzipationsbewegungen eine Offensive mit allen Mitteln und Gemeinheiten. Die afroamerikanischen SelbstbestimmungskämpferInnen in Grenada und Jamaika wurden schließlich ebenso unterworfen wie die Aufstandsbewegungen in El Salvador und Nicaragua. Die wechselnden US-Administrationen und ihre Konkurrenten in Europa sorgen bis heute dafür, dass auch die „Kolumbianische Tragödie“ nicht vom Spielplan abgesetzt wird. In diesem Zusammenhang wollen wir auch die Machtzentrale der katholischen Kirche nicht vergessen, die mit gezielter Personalpolitik nach und nach die meisten reformfreudigen Bischöfe durch stärker romhörige Kirchenbeamte ersetzt hat. Gleichzeitig haben sich neue religiöse AkteurInnen, wie die PfingstlerInnen, als effiziente geistige und geistliche Fußtruppen der Herrschenden erwiesen.
Bei derart massiven Angriffen ist es kaum verwunderlich, dass die Arbeit der Befreiungstheologie in die Defensive geraten ist. Denn sie ist auch eine Religion der sozialen Reformen, die seit Jahren zurückgedrängt werden. Trotzdem hat sich diese auf Emanzipation und Befreiung gerichtete Theologie auch in den vergangenen 30 Jahren weiterentwickelt, ohne ihre Methodologie und ihre „Option für die Armen“ in Frage zu stellen. Den oder die Armen an sich gibt es indessen nicht. Die Armen haben konkrete Gesichter. Es sind Frauen, Schwarze, Kinder, Indigen@s, Flüchtlinge, Obdachlose und… So sehr sie alle unterprivilegiert und ausgegrenzt sind, so bedingt lassen sich ihre unterschiedlichen Erfahrungen vergleichen. Diese Menschen, die lange unsichtbar gemacht wurden, melden sich zu Wort, suchen ihren Weg zur Befreiung. Und auf diesem Weg entstanden und entstehen Bewegungen, die in der Befreiungstheologie wichtige Anregungen und PartnerInnen finden: Bürgerrechtsbewegungen, Indígenaorganisationen, Landlosenbewegung, Frauengruppen… Aus diesen Ansätzen und Bündnissen haben sich neue Fragen und theologische Modelle entwickelt, zum Beispiel die feministische Befreiungstheologie, Landpastoral, indianische und schwarze Theologien… Nicht zu vergessen auch die Wirkung der Befreiungstheologie auf die befreiende christliche Praxis hier bei uns. Sie alle stellen die traditionelle Theologie ebenso in Frage wie den Ökonomismus der traditionellen Linken.
All diese Facetten kommen in dieser ila zu Wort. Ein ziemlich buntes Heft also mit vielen hoffnungsfreudigen Farbtupfern, die aus dem bedrückenden Grau der realen Verhältnisse durchschimmern. Denn überall dort, wo Menschen sich weigern diese Antirealität zu akzeptieren und trotz aller Rückschläge in der politischen Entwicklung gegen die Menschenverachtung kämpfen, ist und bleibt die Befreiungstheologie aktuell und lebendig. Das gegenwärtige System hat mit einer neuen militaristischen Offensive begonnen. Die Räume für ein befreites Leben, in denen die Hoffnung auf eine andere Zukunft Gestalt annehmen kann, werden systematisch beschnitten oder zerstört. In diesem Sinn geht es derzeit darum, „den Keim einer Spiritualität, die weder Grenzen, Machtstrukturen noch Hierarchien kennt, am Leben zu halten,“ so Andrés Mateus Rocha in seinem Artikel für diese Ausgabe.