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 Vor zwei Jahren erregte die außergewöhnliche Bitte eines Häftlings die argentinische Öffentlichkeit: Luis Alberto Santillán ersuchte um Sterbehilfe, da er es nicht mehr aushielt, ohne Gerichtsurteil im Knast zu schmoren. Sieben Jahre lang hatte er zu dem Zeitpunkt schon abgesessen. Santillán wurde bekannt wegen dieser Verzweiflungstat, dabei ist er aber nur ein Fall unter vielen: In den Haftanstalten der Provinz Buenos Aires sitzen 87 Prozent der Häftlinge ohne Verurteilung ein, oft jahrelang. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam in ganz Lateinamerika. Schnell bei der Sache sind die Autoritäten jedoch, wenn es darum geht, die Leute einzuknasten. Prävention ist gleich Einsperren, auf die Gerichtsverhandlung können wir ruhig ein paar Jährchen warten. Hauptsache, die vermeintlichen oder echten ÜbeltäterInnen sind erst mal weg von der Straße. Das führte dazu, dass die lateinamerikanischen Gefängnisse hoffnungslos überbelegt sind.

Um das Ganze anschaulicher zu machen: In Kolumbien teilen sich z.B. sechs Personen eine drei Quadratmeter große Zelle, geschlafen wird im Turnus oder mit dem Kopf auf der Kloschüssel. Die Verpflegung ist miserabel, viele Häftlinge sind darauf angewiesen, dass ihre Familien sie mit Essen versorgen, um nicht zu verhungern. Unzureichende oder schlicht nicht vorhandene sanitäre Anlagen verwandeln Haftanstalten in ein Gesundheitsrisiko: Tuberkulose- und HIV-Infektionen verbreiten sich unter den zusammengepferchten InsassInnen rapide. Lateinamerikanische Knäste sind Menschendepots, die voll sind mit überwiegend armen Menschen. Das soll nicht heißen, dass Arme gleich Verbrecher sind.

Aber: Gesellschaften mit extremen Einkommensunterschieden und stetig wachsender Armut fördern Kriminalität. Gefängnisse übrigens auch, selbst wenn Gegenteiliges behauptet wird. Aber das in der Gesellschaft vorhandene Gewaltpotenzial macht natürlich vor den Gefängnistoren nicht Halt. Lateinamerikanische Knäste sind Weiterbildungsanstalten im Fach Kriminalität: Gewalt und Morde – sei es von Seiten des Wachpersonals, oder von rivalisierenden Mitgefangenen – , Korruption und ein blühender Handel mit Drogen, Waffen und sexuellen Dienstleistungen werden geduldet, ja gefördert.

In so einem Umfeld hat der Resozialisierungsgedanke – wie immer von Ausnahmen abgesehen – natürlich wenig Chancen. Gefragt ist die harte Hand, damit das wachsende soziale Unsicherheitsgefühl vieler Menschen beruhigt wird. In einigen Ländern wird noch ein weiterer Ausweg aus der desolaten, ungesunden und gewalttätigen Gefängnissituation angedacht oder bereits umgesetzt: Privatisierung heißt das Zauberwort z.B. in Argentinien, Chile, Peru und Venezuela. Dem Staat würden damit Kosten bei der dringenden Sanierung der Infrastruktur erspart, außerdem seien Privatunternehmer ja viel effizienter, argumentieren die BefürworterInnen, unter denen sich überraschenderweise auch Venezuelas Staatschef Hugo Chávez befindet. Menschenrechtsgruppen warnen jedoch vor den Folgen dieser Entwicklung. Auf lange Sicht würden private Gefängnisse die Anzahl der Häftlinge erhöhen, unabhängig von den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Ein voll belegtes Hotel werfe ja auch mehr Gewinne ab als eines, dessen Kapazitäten nicht ausgeschöpft seien. In China, wo die Knäste schon seit längerem faktische Sklavenarbeitslager für den Weltmarkt sind, richtet sich die Zahl der Häftlinge nicht mehr nach Umfang und der Schwere krimineller Delikte, sondern nach dem Arbeitskräftebedarf der Knast-Fabriken.

Bei den ganzen Strategien, Rechenspielen und Law-and-Order-Diskursen spielen die eigentlichen BewohnerInnen der Parallelgesellschaft Knast keine Rolle. So wie sich Armutsbekämpfung heute als Armenbekämpfung offenbart, geht es bei der vielzitierten Verbrechensbekämpfung letztlich um VerbrecherInnenbekämpfung. Die lateinamerikanischen Knäste sind Orte schwerer Menschenrechtsverletzungen. Bei diesen ganzen Klagen sollte eines nicht vergessen werden: Das Gefängniswesen hat seinen Ursprung im Strafrechtssystem der europäischen Kolonialmächte, und die jüngsten Reformprojekte in einigen lateinamerikanischen Ländern orientieren sich an europäischen oder US-amerikanischen Hochsicherheitsknästen. In den teilweise noch heute parallel praktizierten indigenen Sanktionsmechanismen hingegen zeigt sich z.B. ein ganz anderes Strafmodell.

Und noch mal zu Europa: Wer sich nur einmal näher mit den Bedingungen in deutschen Abschiebeknästen beschäftigt hat oder sich das Konzept der neuen Internierungslager für Flüchtlinge – euphemistischerweise „Ausreisezentren“ genannt – angeguckt hat, ahnt, wie fest verwurzelt hier bestimmte Strukturen sind, die zutiefst autoritär, menschenverachtend und auf sozialen Ausschluss zielend sind.

P.S. Im Herbst, in der Zeit um die Frankfurter Buchmesse, präsentieren sehr viele Zeitungen und Zeitschriften Literaturbeilagen und -Specials. Die ila hatte das bisher nicht geschafft. Bisher! Diesmal auch bei uns ein zwölfseitiges Literatur-Special. Wenn beim Lesen der Eindruck entsteht, dass bei uns auch viele Bücher Erwähnung finden, die in den Mainstream-Medien nicht vorkommen, dann ist dieser Eindruck durchaus richtig.