Nun wird er Präsident. Dreimal war er bei Wahlen unterlegen, am 27. Oktober wurde Luiz Inácio „Lula“ da Silva in der Stichwahl mit 61,3 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Brasiliens gewählt. Gewählt wurde er, weil die Leute die Nase voll hatten. Hatte früher die Angst (vor den Militärs, vor der Kapitalflucht, vor den USA, vor den Reaktionen der wirtschaftlichen Machtgruppen) viele Leute von einer Stimme für den Kandidaten der linken Arbeiterpartei PT abgehalten, motivierte sie diesmal nicht wenige, das Kreuzchen neben dem Namen Lula zu machen. Dass die Weiterführung der bisherigen Politik leicht zu einem Crash mit argentinischen Ausmaßen und einer breiten Verarmung bis in die Mittelschichten führen könnte, war einfach nicht mehr zu übersehen. Eine Zeitlang konnten die neoliberalen Schwätzer viele Leute Glauben machen, nach einer „schwierigen Anpassungsphase“ würden die „notwendigen Reformen“ wie Privatisierungen, Deregulierungen, Zerstörung der öffentlichen Sozialsysteme und Verzicht auf Investitionen im Bildungswesen zu Wachstum und Wohlstand für alle führen. Offensichtlich erkennen immer mehr Menschen, dass dies bloße Ideologie ist und dass eine mustergültige Umsetzung der von den internationalen Finanzinstitutionen geforderten neoliberalen Wirtschaftspolitik unweigerlich in den wirtschaftlichen Zusammenbruch und eine Verarmung für alle führt.
Nun erwarten viele vieles von Lula – vor allem Brasiliens Arme. Aber radikale Reformen und Eingriffe in die Besitzverhältnisse, wie sie Salvador Allende nach 1970 in Chile einleitete, wird es in Brasilien unter der PT-Regierung nicht geben. Lula hat dem IWF zugesagt, dass Brasilien die Schulden weiter bedienen werde, den Unternehmern hat er klar gemacht, dass seine Regierung ihre Interessen nicht antasten, sondern im Gegenteil fördern wolle. Der Spielraum einer PT-Regierung ist eng: Das Land ist hoch verschuldet, will sie keine Finanzkrise riskieren, muss die Regierung sich mit dem IWF und den Gläubigerbanken gut stellen; im Parlament haben die bürgerlichen Parteien die Mehrheit, Lula wird auf ihre Kooperation angewiesen sein; trotz des triumphalen Wahlergebnisses für Lula ist die linke Bewegung gesellschaftlich keineswegs hegemoniefähig und ist nicht annähernd mit der chilenischen Linken des Jahres 1970 zu vergleichen. Allerdings gibt es den Agrarbereich, wo es mit der MST eine starke Bewegung gibt. Hier ist die Regierung Lula herausgefordert, hier muss sie – gegen den Widerstand der mächtigen Großgrundbesitzerlobby – etwas in Richtung Agrarreform bewegen.
Lula und die PT haben ein Entwicklungsmodell angekündigt, das Produktion und soziale Gerechtigkeit fördern soll. Hier wird vieles von der Gestaltung der internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen abhängig sein. Mit ihrem ALCA-Projekt will die Bush-Administration Lateinamerika dauerhaft auf eine vollständige Abhängigkeit von den USA festlegen. Die Latinos/as sollen US-amerikanische Produkte kaufen, einige Rohstoffe liefern, weniger qualifizierte Arbeiten zu Billiglöhnen in Maquiladoras verrichten und in Lateinamerika tätigen US-Unternehmen jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Der einzige nennenswerte Widerstand auf Regierungsebene kam schon vor Lulas Wahlsieg aus Brasilien. Die ALCA-GegnerInnen auf dem gesamten Kontinent hoffen natürlich, in Brasiliens neuer Regierung eine strategische Bündnispartnerin zu finden. Sicher wird sich Lulas Regierung nicht ohne weiteres in das ALCA-Projekt in der jetzigen Form einbinden lassen, aber dass man von der PT in dieser Hinsicht nicht zuviel erwarten sollte, zeigte die brasilianische Kampagne für ein ALCA-Referendum, die ohne Unterstützung der Arbeiterpartei auskommen musste.
Vom Erfolg von Lulas Präsidentschaft hängt in Lateinamerika vieles ab. Ein erfolgreicher Lula sei für die USA weitaus gefährlicher als Fidel Castro und Hugo Chávez zusammen, hieß es in der jüngsten Ausgabe der Wochenzeitung (WoZ) Zürich. Dem ist zuzustinmmen. Es muss möglicherweise aber noch ein weiterer Name ergänzt werden. Bei den Wahlen in Ecuador lag nach dem ersten Wahlgang überraschend der von der Indígenabewegung und der Linken unterstützte Ex-Militär Lucio Gutiérrez vorne. Irgendwie scheinen die Leute vom Neoliberalismus die Nase wirklich gestrichen voll zu haben. Zumindest in Lateinamerika. In Deutschland fällt dem neuen superkompetenten, supermodernen, superdynamischen Superminister Clement tatsächlich nichts besseres ein, als ungeniert den alten Kalauer wiederzukäuen, Flexibilisierung und Deregulierung brächten mehr Wachstum und Beschäftigung. Super!
P.S. Wir danken diesmal besonders Silke Helfrich und den Kollegen von RMALC, ohne deren Hilfe dieser Schwerpunkt sicher nicht zustande gekommen wäre.