Ideologie, meinte ein kluger Mann aus Trier vor fast anderthalb Jahrhunderten, sei „gesellschaftlich notwendiger Schein“. Was ungefähr so viel heißt, dass die Dinge oft derart kompliziert und undurchschaubar sind, dass es fast unvermeidlich ist, sich über ihre Lage im Irrtum zu befinden. So gesehen ist die Vorstellung, das weltweite Freihandelsregime sei zur Gestaltung akzeptabler Lebensverhältnisse brauchbar, noch nicht einmal Ausdruck verbohrter Ideologie: Ihr Unfug liegt allzu offen zu Tage. Dennoch klammern sich ihre AnhängerInnen an sie wie die Junkies an den Stoff: Wirkt’s nicht mehr, muss man die Dosis erhöhen.
Bei der Etablierung des GATT, des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, im Jahr 1948 betrugen die Zölle weltweit im Durchschnitt 40 Prozent; heute, nach Gründung der Welthandelsorganisation WTO, sind sie auf durchschnittlich 4,6 Prozent gefallen. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nahm die Weltwirtschaft einen rasanten Aufschwung; viele führen das gerade auf die Schutzwirkung der Zölle zurück. Selbst wenn andere Gründe vorrangig gewesen sein sollten: Die Zölle haben jedenfalls nicht geschadet. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten geht es der Mehrzahl der Menschen kontinuierlich schlechter – und daranträgt der abgebaute Schutz durch staatliche Wirtschaftspolitik ein hohes Maß an Verantwortung.
Nicht dass wir meinen würden, staatliche Regulation diene von vornherein den Menschen und nicht dem Kapital; das wäre in der Tat eine ideologische Sicht der Dinge. Auch nach außen abgeschottete Volkswirtschaften betreiben Ausbeutung und eine Stärkung der Starken auf Kosten der Schwachen. Aber werden schwache Volkswirtschaften der weltweiten Konkurrenz ausgesetzt, so verlieren sie in der Regel ihre gesamte Basis: Die wirtschaftliche Konkurrenz ist kein Sporttraining, bei dem der starke Sparringspartner dem schwachen zum Aufbau von Kraft und Erfahrung verhilft. In der Ökonomie geht die Konkurrenz ums Ganze: Der Sieger bleibt im Markt, der Unterlegene verschwindet.
Ging es früher im Wesentlichen um Warenhandel, so ist inzwischen buchstäbliches alles Teil dieses mörderischen Spiels geworden: Von den Altersbezügen bis zum Schulunterricht, von der genetischen Ausstattung bis zum Trinkwasser, vom ärztlichen Beistand bis zur Energie für Heizung oder Kochen wird alles gehandelt, weltweit und ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des größtmöglichen Gewinns. Die interessierten Konzerne und Staaten haben dafür ein System von Regeln und Verträgen geschaffen, das von der Welthandelsorganisation (WTO) verwaltet wird. In seinen Statuten ist vorgesehen, dass es kontinuierlich ausgebaut wird, bis sämtliche Dienste und Güter ihm unterworfen sind.
Es sei denn, es fällt ihm jemand in den Arm – wozu wir hiermit ausdrücklich auffordern. Im September dieses Jahres findet im mexicanischen Cancún die nächste WTO-Ministerkonferenz statt. Dazu wird es eine Kampagne und weltweit Aktionen geben. Mehr dazu in diesem Heft.