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Als vor 200 Jahren, am 1. Januar 1804, Jean-Jacques Dessalines nach dem Sieg  seines Sklavenheeres über die französischen Kolonialtruppen die Unabhängigkeit Haitis proklamierte, erkannte Frankreich diese nicht an und betrieb die internationale Isolierung der neuen Republik. Auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die nur knapp drei Jahrzehnte vorher ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten, erkannten Haiti nicht an, weil sie keine schwarze Republik in ihrer Nachbarschaft wollten. Erst als die haitianische Regierung 1825 vor der ehemaligen Kolonialmacht zu Kreuze kroch und den enteigneten Plantagenbesitzern und Sklavenhaltern eine finanzielle Entschädigung von 150 Millionen Francs und Zollpräferenzen für französische Waren zusagte, erkannten Frankreich und kurz danach auch die USA die schwarze Republik an. (Von dem Geldtransfer an Frankreich erholte sich die junge Republik nie. Auf eine Entschädigung ihrerseits für 200 Jahre Zwangsarbeit auf den französischen Plantagen warten die HaitianerInnen bis heute).

Der Beziehungsrahmen zwischen Frankreich, den USA und Haiti war damit abgesteckt: Nichtanerkennung, wenn in Haiti etwas geschah, was den Interessen der BesitzbürgerInnen Frankreichs und der USA nicht passte, und wenn das nicht ausreichte, Interventionsdrohung oder Intervention. 1915 wurde Haiti von US-Truppen besetzt und damit faktisch rekolonisiert. Erst 1934 verließen die Marines die Insel und entließen das Land wieder in eine prekäre „Unabhängigkeit“. Natürlich ging es bei allen Nichtanerkennungen und Interventionen nie um Geld, sondern um die Verteidigung der Ordnung, der Demokratie, der Freiheit oder der Menschenrechte.

In den letzten Februartagen dieses Jahres traten die beiden ehemaligen Kolonialmächte in Haiti wieder einmal auf den Plan: Sie zwangen den gewählten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide zum Rücktritt und deportierten ihn in Handschellen in die Zentralafrikanische Republik, einen engen Alliierten Frankreichs in Afrika.

Der ehemalige Armenpriester Aristide war 1990 als Kandidat einer breiten linken Front durch einen überwältigenden Wahlsieg an die Regierung gekommen. Ein Jahr später wurde er vom Militär weggeputscht. Es folgten drei Jahre blutiger Diktatur. 1994 landeten US-Truppen in Haiti und setzten den Präsidenten Aristide wieder ein – allerdings unter der Bedingung, dass er ein halbes Jahr später nach dem Ablauf seiner offiziellen Amtsperiode das Amt niederlegte und nicht erneut kandidierte. Die damalige Clinton-Regierung wollte die Form wahren – den gewählten Präsidenten wieder einsetzen – aber gleichzeitig den linken Aristide und – so US-Geheimdienstler – „die Typen aus den Slums“ (vgl. ila 180) loswerden. Seitens der US-Regierung und der europäischen Christ- und Sozialdemokratie war eine neue Elite schon während der Diktaturzeit vorbereitet worden: die „modernistischen“ Teile von Aristides Lavalas-Bewegung, ehemalige Kader linker Gruppen, die die Zeichen der Zeit erkannt hatten und Haiti nach den Vorstellungen des Internationalen Währungsfonds reformieren sollten. Vorbild war die chilenische „Convergencia Democrática“, die erfolgreich die Pinochet-Diktatur beerbt hatte. Doch anders als Salvador Allende war Aristide noch am Leben und wollte partout nicht mitspielen. Er lehnte es ab, sich aus der Politik zurückzuziehen und setzte stattdessen auf die „Typen aus den Slums“. 1995 ließ er seinen Gefolgsmann René Préval zum Präsidenten wählen, 2000 kandidierte er dann selbst.

Was 1990 für einen kurzen Moment möglich schien, nämlich alle konstruktiven politischen Kräfte Haitis unter einem Dach zu vereinen, wurde nun von allen Protagonisten abgelehnt. Aristide misstraute den Modernisierern und drängte sie aus allen politischen Ämtern. Diese wiederum begannen ihren ehemaligen Frontmann zu bekämpfen und wurden dabei massiv aus den USA und Europa unterstützt. Nicht mehr die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes stand auf der Tagesordnung, sondern ein zerstörerischer Kampf um die Macht, der zunehmend gewalttätig ausgetragen wurde. Aus Aristides Basis in den Slums formierten sich Schlägertrupps und später paramilitärische Gruppen, die Opposition suchte und fand den Kontakt zu den Schergen der Militärdiktatur. Die militante Polarisierung brachte zudem Warlords hervor, die auf eigene Rechnung zu arbeiten begannen.

Die Modernisierer wussten, dass sie Aristide nur mit ausländischer Hilfe loswerden konnten, und setzten voll auf die US-amerikanische Karte. Die Bush-Regierung ließ sich nur allzu gerne zur Intervention „drängen“, auch wenn Außenminister Powell stets das Gegenteil behauptete. Und die alte Kolonialmacht Frankreich organisierte die Entsorgung Aristides. Anders als in der Irak-Frage war man sich hier einig: Das Ziel war die Wiederherstellung des Status quo antes – die mit Europa und den USA verbandelte alte Elite sollte zurück an die Macht und die wenigen Filetstücke der haitianischen Wirtschaft (z.B. Haiti Telecom) an internationale Unternehmen verscherbeln. Ob Aristides einstmals linke Verbündete und späteren Gegner nun ein bisschen Regierung spielen dürfen oder ob die Macht direkt an die traditionelle Rechte geht, ist dabei höchstens noch eine Fußnote der Geschichte.