Im Dezember 2001 brach die argentinische Wirtschaft zusammen. Die Wut der Leute, die zu Hunderttausenden auf die Straßen gingen, fegte die Regierung de la Rúa und mehrere Übergangskabinette hinweg. In den Monaten danach kam es zueiner beispiellosen Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung. In dem riesigen fruchtbaren Land herrschte Hunger. Hunderttausende konnten sich nur dank einer selbst organisierten Überlebensökonomie notdürftig über Wasser halten: Volksküchen, Tauschmärkte etc. halfen ihnen, sich mit dem Notwendigsten zu versorgen. Neben diesen Ansätzen einer solidarischen Ökonomie formierte sich im Jahr 2002 in Argentinien eine beeindruckende soziale Bewegung. In den Barrios bildeten sich Stadtteilversammlungen, die sich wöchentlich auf einem Platz trafen, die Probleme des Viertels diskutierten und Initiativen zu ihrer Lösung starteten. Arbeitslose organisierten den sozialen Protest im Alltag: Mit Blockaden auf Straßen und Zufahrtswegen störten sie Produktion und Konsum, zu denen sie längst keinen Zutritt mehr hatten. Dort, wo Betriebe dichtmachen wollten, besetzten Arbeiterinnen und Arbeiter die Anlagen und führten die Produktion weiter.
In der vorletzten ila hatten wir gezeigt, wie KünstlerInnen auf die neuen Bewegungen zugingen und sich und ihre Kreativität einbrachten. Es schien, als seien allerorts Keimzellen eines neuen Argentinien entstanden. Doch bald zeigten sich die Grenzen mancher Initiativen. Beispiel Tauschmärkte: In den ersten Monaten des Jahres 2002 hatten Millionen ArgentinierInnen keine Einkünfte. Ohne das allgemeine Äquivalent Geld begannen die Leute, Güter und Dienstleistungen zu tauschen. Was vom Konzept her so gedacht war, dass Arbeitskraft unterschiedlicher Qualifikation und Fähigkeit getauscht werden sollte, lief in der Praxis so, dass die verarmte Mittelschicht überwiegend ihre verbliebenen Konsumgüter anbot, während die Armen ihre Arbeitskraft direkt oder in Form von selbst gefertigten Produkten offerierten. Als die Mittelschicht ihre verzichtbaren Güter aufgebraucht hatte, gingen den Tauschmärkten die Angebote aus. Beispiel Stadtteilversammlungen: Die wöchentlichen Treffen in den Barrios weckten bald die Gelüste von linken Avantgardeparteien. Bot sich da nicht ein prima Rekrutierungsfeld an? Mit ihren geschulten Kadern gelang es diversen Kleinstparteien, die Versammlungen zu dominieren. Die Leute waren davon überwiegend genervt und blieben den Treffen fern.
Der sozialen Bewegung gelang es nicht, politische und ökonomische Alternativen zu entwickeln, die Mehrzahl der Bevölkerung war und blieb unpolitisch. Bei den Präsidentschaftswahlen im April 2003 stimmte die überwältigende Mehrheit für die Kandidaten des peronistischen und neoliberalen Lagers. Die meisten Stimmen (knapp 24 Prozent) erhielt mit Carlos Menem ausgerechnet der Politiker, der maßgeblich für das ökonomische Desaster verantwortlich war. Da er keine Chance hatte, die Wahlen zu gewinnen, trat er im zweiten Wahlgang nicht mehr an. So wurde der Linksperonist Néstor Kirchner, der im ersten Wahlgang gerade mal 21 Prozent der Stimmen erhalten hatte, neuer Präsident. Mit einigen populären Maßnahmen, vor allem gegen die Verantwortlichen der letzten Militärdiktatur, gewann Kirchner die Unterstützung der Mehrheit der ArgentinierInnen. Eine leichte wirtschaftliche Erholung half dem Präsidenten dabei. Lautete die Parole im Dezember 2001 noch „¡Qué se vayan todos!“ (Sollen sie doch alle verschwinden!), begann man erneut, einem Politiker zu vertrauen: Néstor Kirchner.
Der wirtschaftliche Aufschwung und ein bescheidenes Beschäftigungsprogramm spalteten die Arbeitslosenbewegung. Besetzten Betrieben bot die Regierung eine Möglichkeit zur Legalisierung an, unter der Bedingung, dass sie ihre „Schulden“ bei den Alteigentümern tilgten. Viele Betriebe gingen auf die Angebote ein und versuchen nun, durch rigorose Selbstausbeutung die notwendigen Überschüsse zu erwirtschaften. Ohne dass sie nennenswerte soziale Zugeständnisse erreicht hat, demobilisiert sich die soziale Bewegung. Dabei hat die Regierung Kirchner in der Wirtschaftspolitik keine grundsätzliche Kurskorrektur eingeleitet. Zwar tritt sie den internationalen Gläubigern offensiver entgegen, aber zu einem Bruch mit dem neoliberalen Dogma ist sie nicht bereit. In unserem Dossier skizzieren wir die Entwicklung der argentinischen Krise, analysieren die Lage der sozialen Bewegung und bringen einige Stimmen aus der Debatte um eine alternative Politik für Argentinien. Reichlich Diskussionsstoff für die Argentinien-Solidarität und die globalisierungskritische Bewegung.