Wir nennen sie Gringos und sie nennen uns Spics“ erklärt der Vater seiner kleinen Tochter in dem Buch „Als ich noch in Puerto Rico war“ von Esmeralda Santiago. Und auf die anschließende Frage, was Spics sind, erklärt er: „In New York gibt es viele Puertoricaner, und wenn jemand ihnen eine Frage stellt, sagen sie: ‚I don spik inglish’ anstatt ‚I don’t speak English’.“
Nueva York, das lateinamerikanische New York, ist der Schwerpunkt unserer diesjährigen – der nunmehr zehnten – Städtenummer. Inzwischen ist mindestens jedeR Vierte in New York lateinamerikanischer Abstammung. Latino-Einwanderung gibt es in der Stadt seit hundert Jahren. Doch im letzten Jahrzehnt bekam sie ein neues Gesicht. Anfangs waren es überwiegend CubanerInnen und die BürgerInnen des mit den USA „frei assoziierten Staates“ Puerto Rico, die an den Hudson kamen. Obwohl die PuertoricanerInnen immer noch die größte Gruppe unter den New Yorker Latinos stellen, sind DominikanerInnen, MexicanerInnen, KolumbianerInnen und EcuadorainerInnen ihnen hart auf den Fersen.
Wo verorten sich EinwanderInnen aus der Karibik und Lateinamerika in New York? Welche ökonomischen Nischen besetzen sie und was ist ihr Anteil an der Medienmetropole der Welt? Wo zeigt sich ihr Einfluss im Alltag, auf den Straßen, beim Essen, in der Sprache, im Fernsehen, in der Musik, der Literatur? Wie weit ist die Weltstadt New York latinisiert?
Die politische und intellektuelle Elite der USA – und da bildet New York keine Ausnahme – geht immer noch von einer weißen, protestantisch geprägten Leitkultur aus. Die AfroamerikanerInnen sind dabei der Bodensatz: die SozialhilfeempfängerInnen, die ledigen Mütter und die Drogendealer. Alle anderen EinwanderInnengruppen konnten bisher, soweit sie sich an die herrschende schwarz-weiß und gut-böse Aufteilung anpassten, Teil des Melting Pots werden. Die erste Generation arbeitete nach diesem Schema bis zum Umfallen in den schlechtesten Jobs, ihre Kinder gehen aufs College und spätestens die Angehörigen der dritten Generation sind gute US-AmerikanerInnen. Die wachsende Migration aus der Karibik und Lateinamerika stellt dieses Schema aber in Frage. Ganz selbstverständlich versucht das Empfängerland die Latinos in schwarz und weiß aufzuteilen. Aber diese wehren sich dagegen. Die Frage, ob die vielen spanischsprachigen (oder auch Kreolisch, Französisch und Englisch sprechenden) MigrantInnen und ihre Kinder Teil der US-Gesellschaft werden oder ob sie die Rolle der DienstleisterInnen beibehalten oder sich sogar eine Latino-Identität als Teil der Leitkultur etabliert, ist noch völlig offen.
Nueva York hat konkrete Orte: Spanish Harlem oder „El Barrio“ am oberen Ende des Central Park in Manhattan, Quisqueya in Washingthon Heights, das DominikanerInnenviertel ganz hoch oben in Manhattan, dort, wo es schon lange nicht mehr das Manhattan der Wolkenkratzer ist, Loisaida, die Lower East Side, ein eher traditionelles Latino-Viertel, in dem in den letzten zehn Jahren eine massive Vertreibung durch Bodenspekulanten stattgefunden hat, Little Columbia, Little Ecuador, Little Peru rund um Jackson Heights in Queens, das haitianische Viertel an der Flatbush Avenue in Brooklyn. Obwohl inzwischen der überwiegende Teil der Latino-MigrantInnen in der Bronx, in Brooklyn oder in New Jersey wohnen, gelten diese Viertel weiter als Bezugspunkte. Dort gibt es heimisches Essen und alle reden in Spanisch oder Kreolisch, die Geschäfte und Straßenschilder sind auf die Bedürfnisse der Latinos zugeschnitten, dort sind die eigenen sozialen und kulturellen Einrichtungen und Treffpunkte, mit Barrio-Zeitung und Straßenfest inklusive. Aber es sind nicht nur diese Orte, die Nueva York ausmachen. Es sind die überwiegend mexicanischen DemonstrantInnen, die sich allwöchentlich gegen die restriktiven Ausweisungsgesetze und -praktiken nach dem 11. September versammeln, die nationalen Paraden, allen voran die Puerto Rican Day Parade, die zumindest für einen Tag die Hauptstraßen besetzen, die Musik (in New York wurde die Salsa erfunden), die Literatur und das Theater, in denen Latinos zumindest teilweise Räume erobert haben. Noch sind die allermeisten LateinamerikanerInnen hinter den Dampfschwaden der Küchen versteckt, wie es der Dichter Martín Espada ausdrückt. Aber dort werden sie nicht bleiben.
P.S. Am 19. Juli jährt sich zum 25. Mal der Triumph der sandinistischen Revolution in Nicaragua. Kaum ein Datum in Lateinamerika in den vergangenen Jahrzehnten hat weltweit mehr Hoffnungen frei gesetzt und mehr Menschen zu einem aktiven politischen Engagement bewogen. Allerdings wurde auch kaum eine Niederlage der Linken weltweit so schmerzlich erlebt wie das Wahldebakel der SandinistInnen im Februar 1990. Für die Mehrheit der Menschen in Nicaragua brachte die Revolution zunächst eine Ära der Hoffnung. Dann polarisierte der von der Reagan-Administration aufgezwungene Contra-Krieg das Land, forderte einen großen Blutzoll und zerstörte mehr als alles andere die Träume vieler Menschen. Die FSLN war nicht in der Lage, die Hoffnung aufrecht zu erhalten. Die Mehrheit der Nicas stimmte für die Rechte, um endlich Ruhe zu haben. Seitdem herrscht in Nicaragua wieder das kapitalistische Elend – heute schlimmer als jemals zuvor.