In den letzten beiden Jahrzehnten gab es in der Arbeitswelt Lateinamerikas dramatische Veränderungen. Als wir unseren letzten Gewerkschaftsschwerpunkt (ila-info 106, Juni 1987) veröffentlichten, waren diese Umsrukturierungen zwar schon angelegt, in ihren Ausmaßen aber noch keineswegs abzusehen. Damals begann gerade die Offensive des Neoliberalismus. Heute ist diese Herrschaftsideologie weltweit auf dem Höhepunkt ihres Einflusses, gegenwärtig beschwören ihre Missionare in den Redaktionen und Instituten hierzulande den notwendigen Umbau des Sozialstaates und meinen damit reale Lohnsenkungen und die weitgehende Freistellung der Großunternehmen von der Steuerpflicht. Unterdessen richten ihre Auftraggeber in den Unternehmensvorständen die mitteleuropäischen Gesellschaften auf ihre Bedürfnisse zu. In Lateinamerika hat dieser Prozess früher angefangen und ist bereits sehr weit fortgeschritten.
Für die lateinamerikanischen Gewerkschaften bedeutete das, dass sie seit Anfang der achtziger Jahre einen enormen Bedeutungsverlust hinnehmen mussten. Die Privatisierungsprogramme, die Abschaffung bzw. Umgestaltung formeller Beschäftigungsverhältnisse, die in vielen Ländern erfolgte Deindustrialisierung oder die Schließung von Minen haben Hunderttausende von ArbeitnehmerInnen um ihre Jobs und die Gewerkschaften um ihre Mitglieder gebracht. Gleichzeitig gelang es den Gewerkschaften nur ansatzweise, die Arbeitenden in den neu entstandenen Sektoren zu organisieren. Zu nennen wären hier die exportorientierte Teilfertigungsindustrie (Maquiladoras), die saisonalen Beschäftigungsverhältnisse in der Exportlandwirtschaft und der so genannte informelle Sektor, in dem Millionen von „Selbstständige“ unter prekärsten Bedingungen ihr Überleben fristen.
Dass es in diesen Sektoren nicht zu umfangreicheren gewerkschaftlichen Organisationsprozessen gekommen ist, hat verschiedene Gründe. Dazu gehören äußere Faktoren, wie das Verbot gewerkschaftlicher Arbeit in vielen „Freien“ Produktionszonen, aber auch innere Defizite, wie die bürokratischen, männlich dominierten Gewerkschaftsstrukturen, die die Arbeiterinnen in der Maquila-Industrie oder der Exportlandwirtschaft eher abschrecken. Dazu kommen grundsätzlichen Probleme, etwa die Frage, wie und entlang welcher Interessen man individuell agierende und miteinander konkurrierende KleinsthändlerInnen oder KleinstproduzentInnen überhaupt gewerkschaftlich organisieren kann.
Sind Gewerkschaften also ein Auslaufmodell? Keineswegs. Auch wenn sie Bedeutungsverluste hinnehmen mussten, sind sie vielerorts in Lateinamerika nach wie vor die soziale Bewegung, die die meisten Menschen interessensorientiert mobilisieren kann. Natürlich hängt ihr gesellschaftlicher Einfluss auch von ihrer jeweiligen Praxis ab. Jenseits der ökonomischen Zwänge gibt es sehr unterschiedliche Ansätze gewerkschaftlicher Politik. Beschränken sie sich ängstlich auf ihre eigene Klientel, können sie kaum deren Interessen verteidigen. Auch die Unterordnung unter eine politische Partei schwächt die Gewerkschaften, vor allem wenn diese Partei an der Regierung ist und selbst die neoliberale Reformen durchsetzt, wie in der Vergangenheit in Argentinien oder Costa Rica oder gegenwärtig in Brasilien.
Dagegen zeigt sich, dass Gewerkschaften dort beträchtliche Erfolge erzielen können, wo sie Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen eingehen, eine intelligente Medienpolitik betreiben und gegenüber politischen Parteien auf ihrer Autonomie bestehen. So konnten die Gewerkschaften – etwa in Zentralamerika, in Kolumbien oder in Uruguay – gesellschaftliche Mehrheiten gegen Privatisierungsvorhaben zusammenbringen, weil den Leuten klar wurde, dass die Privatisierungen nicht nur schlechtere Arbeitsbedingungen für die betroffenen Belegschaften bedeuten, sondern auch zu einer generellen Verschlechterung etwa der Wasser- und Energieversorgung oder des Gesundheitswesens führen.
Also Leute: Hört die Signale. Oder findet sie im Internet. Es gibt sie!