Natürlich haben wir uns in den Morgenstunden des 1. November 2004 gefreut – zumindest diejenigen unter uns, die Uruguay persönlich kennen und lieben. Die Nachrichten hatten gemeldet, dass der Sozialist Tabaré Vázquez die Präsidentschaftswahlen in Uruguay gewonnen hat. Es war einfach überfällig!
Die politische Stagnation und der wirtschaftliche Niedergang unter den letzten drei konservativen Regierungen in Uruguay waren unerträglich. Die Verarmung war allgegenwärtig. Hungernde Kinder in einem Land, das zu den größten Fleischexporteuren der Welt gehört! Die linke Stadtregierung von Montevideo versuchte mit ihren begrenzten Mitteln wenigstens das schlimmste Elend zu lindern und förderte Volksküchen und soziale Einrichtungen. Schon bei den letzten Wahlen holte die Linke in der Hauptstadt 58 Prozent der Stimmen, doch die Staatsgewalt lag nach wie vor in der Hand rechter Politiker wie Lacalle, Sanguinetti oder als trauriger Höhepunkt an Unfähigkeit Jorge Batlle. Kein Zweifel: Wo die bürgerlichen Parteien dermaßen abgewirtschaftet hatten, musste sich die Linke einfach als Machtalternative präsentieren und sich auf die Übernahme der Regierungsverantwortung vorbereiten.
Nun ist es eine Sache, Wahlen zu gewinnen, eine andere Sache ist es, eine fortschrittliche Politik im Interesse der Bevölkerungsmehrheit zu machen. Uruguay ist hoch verschuldet, die Industriestruktur zerstört, das Bildungswesen seit langem vernachlässigt…
In den Nachbarländern sind die großen Erwartungen an Mitte-Links-Regierungen bereits geschwunden. Ecuadors Präsident Gutiérrez war wohl nie ein Linker und findet sich heute im rechten Lager wieder, die Regierung Lula in Brasilien macht neoliberale Politik und Argentiniens Präsident Kirchner hat seinen anfänglichen Schwung längst verloren.
Aber in Uruguay ist vieles anders. Weder in Argentinien, Brasilien noch Ecuador ist die Bevölkerung in solchem Umfang organisiert wie in Uruguay. Die UruguayerInnen beteiligen sich traditionell aktiv an politischer Willensbildung und Debatte – und zwar in einem Maße, das uns aus unserer deutschen Perspektive nur staunen lässt. Die Activistas der Frente Amplio und der sozialen Bewegungen besuchten regelmäßig alle Haushalte in Montevideo und viele im Rest des Landes und diskutierten mit den Leuten, wenn es ihnen darum ging, für diese oder jene Volksabstimmung zu werben. Mehrfach brachten sie landesweit über 25 Prozent aller Wahlberechtigten zu einer Unterschrift für die Abhaltung des jeweiligen Referendums. Der Wahlkampf lief ganz ähnlich.
Die Frente Amplio (dt. Breite Front) ist sicher eines der interessantesten linken Projekte weltweit. Erstaunlich resistent gegen Spaltung und Zersplitterung vereint sie seit vielen Jahren Organisationen unter einem Dach, die anderswo kaum zwei Monate an einem Tisch sitzen könnten. Die „Bewegung für Volksbeteiligung“ (MPP), heute wichtigste Gruppe in der Frente Amplio, ist eine von der einstigen Stadtguerilla „Tupamaros“ ins Leben gerufene Massenbewegung, der es gelang, die Ausgegrenzten in den Armenvierteln zu organisieren, wie es keine andere linke Partei in Lateinamerika vermochte. Zweitgrößte Kraft ist die Sozialistische Partei, die der einstigen Partei von Salvador Allende weit näher steht als der europäischen Sozialdemokratie und deren international bekanntester Aktivist, Eduardo Galeano, ein wichtiger Stichwortgeber der globalisierungskritischen Bewegung ist. Die Kommunistische Partei hatte unter ihrem historischen Führer Rodney Arismendi schon in den sechziger Jahren zumindest innenpolitisch und in ihrer Bündnispolitik eine politische Öffnung vollzogen, lange bevor in Europa der so genannte „Eurokommunismus“ proklamiert wurde. Aber das Wesentliche der Frente sind nicht ihre verschiedenen Parteien, sondern ihre Einheit, die trotz vieler ideologischer Gegensätze immer und immer wieder gehalten hat. In der Frente Amplio wird ständig – öffentlich – um Positionen gerungen. Die Konflikte wurden bislang immer konsensual gelöst, ohne dass Abweichler aus der Frente ausgeschlossen wurden, anders als etwa in der brasilianischen PT.
Auch wenn die neue Regierung vielleicht zu männlich, zu alt oder zu weiß ist – sie versammelt ein hohes Maß an politischer Kompetenz und moralischer Integrität. Außerdem unterscheidet sie sich vermutlich von den meisten anderen Regierungen der Welt dadurch, dass ihre Mitglieder es wohl zusammen auf an die hundert Jahre Knasterfahrung bringen. Acht Minister und Staatssekretäre waren während der Diktatur politische Gefangene.
Am 1. März wird die neue Regierung in Uruguay ihr Amt antreten.
Die ila wünscht der Frente Amplio allen Erfolg der Welt!