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Argentinien, Hoffnung all derjenigen, die größere Schuldennachlässe durch Handeln der Schuldnerländer selbst für möglich hielten, hat weniger durchgesetzt, als es angestrebt hatte. Brasilien, Hoffnung all derjenigen, die die Reihenfolge „erst Schulden bezahlen, dann eine konsequente Politik gegen die Armut“ für notwendig hielten, zahlt erheblich mehr, als es müsste. Und Venezuela, Hoffnung all derjenigen, die eine Rettung in antiimperialistischer Haltung sehen, argumentiert, es könne nicht alleine die Zahlung verweigern.

Und so zahlen sie alle. Dabei, so fragt einer unserer Autoren, was würde denn passieren, wenn sie nicht mehr zahlten? Und gibt selbst die Antwort: schlicht gar nichts. Davon muss man nicht überzeugt sein. Nur weil bisher die US-Armee nirgendwo einmarschiert ist mit dem erklärten Zweck, die Schulden einzutreiben, heißt das nicht, dass der internationalen Gläubigergemeinschaft keine (Zwangs)Mittel zur Verfügung ständen.

Schließlich gehört ihnen alles in den verschuldeten Ländern. Vieles, von Unternehmen bis zu Medien, ist direkt im Besitz von Konzernen oder Kapitalanlegern aus den Gläubigerstaaten. In den letzten anderthalb Jahrzehnten beschränkte sich ihr Engagement nicht mehr nur auf die klassischen Direktinvestitionen im industriellen Bereich (wie etwa Autobau), sondern sie kauften sich in alle ehemals staatlichen Bereiche ein. Heute kontrollieren sie öffentliche Infrastruktur wie Wasserversorgung oder Nahverkehr ebenso wie Gesundheitswesen oder Altersversorgungssysteme. Anderes, wie so manche Armee- oder Staatsführung, haben ihre Regierungen ebenso unter Kontrolle wie große Teile der Eliten. Gemeinsame Interessen bei Kapitalinvestitionen, gemeinsame Ausbildung, gemeinsame Marktgläubigkeit helfen viel. Wenn das nicht reicht, agieren immer noch Geheimdienste und Wirtschaftsspionage mit unmittelbarem Druck. Und juristisch gibt ihnen so manche verbindliche Vereinbarung das Recht, pünktliche Zahlung zu verlangen. Faktisch kommt das der Möglichkeit gleich zu bestimmen, in welcher Form die Schuldnerländer ihren zukünftigen Reichtum herzustellen haben, nämlich in monetärer, in Geldform. Das heißt, dass Weltmarktexporte her müssen, koste es, was es wolle. Schließlich braucht man Geld, um Schulden zu bezahlen, und nicht etwa braune Bohnen oder die Ernte eines kleinen Maisfeldes.

Da braucht es gar keine Marines und keine Militärinterventionen, um diese Ansprüche durchzusetzen. Die lateinamerikanischen Länder sind, wie alle anderen auch, völlig in die Weltwirtschaft integriert. In Handelskriegen gegen die USA oder EU hätten sie wohl kaum eine Chance. Während die Industriestaaten ihre Konzerne für eventuelle Ausfälle entschädigen könnten, fehlen den lateinamerikanischen Staaten die Mittel, ihre Wirtschaften zu schützen. Auch die Perspektive einer eigenständigen, vom Weltmarkt abgeschotteten Entwicklung existiert nicht mehr. Das wurde schon einmal (in den 50er und 60er Jahren) versucht und nannte sich „Importsubstitution“. Der Industrialisierungsgrad der lateinamerikanischen Länder war damals erheblich höher als heute und die meisten Länder hatten die Fähigkeit zur weitgehenden Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln. Dennoch scheiterte der Versuch und endete in hoher Kreditaufnahme in den 70ern. Heute ist so etwas praktisch völlig ausgeschlossen. Selbst Cuba überlebt nur, weil es in Teilen seinen internationalen Handel aufrechterhalten kann.

Ein Ausweg durch einseitiges Agieren verschuldeter Länder ist nicht in Sicht. Kein lateinamerikanisches Land hat bisher versucht zumindest Teile seiner Schulden als illegitim grundsätzlich in Frage zu stellen. Argentinien hätte etwa die Möglichkeit gehabt, auf diese Weise gegen die Kredite vorzugehen, die die Militärjunta zur Finanzierung des Malwinenkrieges aufgenommen hatte. Ebenso wenig existieren ernsthafte Bemühungen, sich zu einem Schuldnerkartell zusammenzuschließen – nicht einmal im Mercosur, dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt, von dem drei Mitgliedsländer (Argentinien, Brasilien und Uruguay) politisch inzwischen ziemlich ähnlich ausgerichtet sind. Schuldenerlass/-streichung wird notwendig Gegenstand internationaler Kämpfe sein müssen. Wir müssen das in und gegen unsere Gesellschaften ebenso durchsetzen, wie die Bewegungen im Süden ihre Regierungen erst dazu zwingen müssen, es überhaupt zu fordern.