Es ist wieder Juli und erfahrene ila-LeserInnen wissen, dass in diesem Monat immer unser Städteschwerpunkt erscheint. Bei diesen Ausgaben machen wir die Erfahrung, dass die Hefte, die sich mit vielbereisten Städten beschäftigen, weit über unseren AbonnentInnenkreis hinaus stark nachgefragt werden und relativ schnell vergriffen sind. Das galt etwa für die Schwerpunkte zu Buenos Aires, Montevideo, Mexico D.F., Havanna oder Lima. Andere Städte-ilas wurden dagegen relativ wenig nachbestellt, was sicher nicht an ihrer Qualität lag, sondern daran, dass die behandelten Metropolen außerhalb des touristischen Interesses liegen. Dazu gehörten etwa die Schwerpunkte Medellín, Tegucigalpa oder São Paulo. Wenn es nur danach ginge, dürfte der vorliegende Schwerpunkt Caracas wohl eher auf weniger Interesse stoßen. Denn die venezolanische Hauptstadt gehört ganz sicher nicht zu den Städten, in denen sich TouristInnen tummeln. In manchen Venezuela-Reiseführern wird sogar ausdrücklich empfohlen, man solle den Aufenthalt in Caracas möglichst kurz gestalten und schnell zu den Naturschönheiten im Landesinnern oder zu den Stränden der Isla Margerita weiterreisen. Die Hauptstadt habe touristisch wenig zu bieten und sei zudem gefährlich.
Auf die Gefährlichkeit der Stadt machen eineN auch VenezolanerInnen – vornehmlich solche aus der Mittelschicht – als erstes aufmerksam, wenn sie hören, dass man zum ersten Mal in der Stadt ist. Man könne sich in Caracas nicht so bewegen, wie in europäischen Städten, vor allem abends solle man äußerst vorsichtig sein und viele Gegenden, auch und gerade die Innenstadt, unbedingt meiden. Zu Verabredungen oder Veranstaltungen solle man am besten mit dem Taxi fahren, von den öffentlichen Verkehrsmitteln sei nur die U-Bahn empfehlenswert. Würde man dennoch Opfer eines Überfalls, solle man sich auf keinen Fall wehren, sondern seine Wertsachen sofort abgeben, sonst würde die Sache lebensgefährlich – die Gangster fackelten nicht lange.
Solche Verhaltensmaßregeln sind sicher vernünftig und man sollte sie als Reisender auch beachten. Auch ist es sicher nicht von der Hand zu weisen, dass Caracas ein großes Gewaltproblem hat – aber der Diskurs über die Gefährlichkeit der Stadt ist auch Ausdruck der gesellschaftlichen Polarisierung. Damit ist nicht die vordergründige politische Polarisierung der vergangenen Jahre zwischen AnhängerInnen und GegnerInnen des Präsidenten Hugo Chávez gemeint. Es geht um die Polarisierung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, die irgendwie an der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte, sprich dem Erdölboom partizipieren konnten und jenen, die davon weitgehend ausgeschlossen waren. In jeder lateinamerikanischen Großstadt gibt es elegante Geschäfts- und Bankenviertel, die Wohnanlagen der Mittelschicht, die hochgesicherten Villenbezirke der Reichen auf der einen und die wachsenden Armen- und Elendsviertel auf der anderen Seite.
Aber kaum anderswo ist diese soziale Polarisierung so spürbar wie in Caracas, wo die Barrios der Armen die in einem Talkessel liegende Innenstadt und die wohlhabenderen Wohnviertel fest umschließen. Die Barrios oben sind von überall sichtbar, ebenso sichtbar wie die Beton- und Glaspaläste im Tal. Die BewohnerInnen der Barrios sind in der Wahrnehmung der Mittel- und Oberschichten die „gefährliche Klasse“, die vor allem in Schach gehalten werden muss. Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich die politische Polarisierung der letzten Jahre, denn Hugo Chávez stützt sich vor allem auf diese „gefährliche Klasse“, und dies macht ihn – weit mehr als seine konkrete Politik – zum Hassobjekt vieler bessergestellter VenezolanerInnen.
Wir nähern uns der Stadt Caracas in dieser ila über die Barrios an, mit dem Leben dort beschäftigt sich der größere Teil der Beiträge dieses Heftes. Natürlich geht es da um die sozialen Probleme, die Armut, die Arbeitslosigkeit und die Gewalt, aber auch um spannende kulturelle Erfahrungen, die etwa der Berliner Schriftsteller Raul Zelik oder der Kölner Rapper Kutlu Yurtseven von der Microphone Mafia beschreiben.
Auch diese ila wäre nicht ohne intensive Hilfe von außen zustande gekommen. Wir danken allen ganz herzlich, die uns diesmal durch Fotos, Texte und Kontakte unterstützt haben, ganz besonders Dario Azzellini, Wolfgang Eckner, Ute Evers, Mariella Rosso und Raul Zelik.