Manche Titelbilder der ila erfordern einigen Einsatz. Bevor das Cover dieser Ausgabe entstehen konnte, schrieb die Fotografin, mussten sie von Lima vier Stunden Richtung Norden durch die Wüste fahren, bis nach Barranca, einem kleinen lebhaften Küstenstädtchen. Dort stiegen sie in einen Kombi und fuhren drei weitere Stunden nach Osten in die Berge. Wie üblich saßen alle eng zusammen, die kleinen Tiere wurden unter die Sitze geschoben, und die spanische Sprache ging mehr und mehr in Quechua über. Sie fuhren durch eine trockene, sandfarbene Wüstenlandschaft, lediglich in einem Flusstal waren ein paar grüne Felder zu sehen. An einem Steinquader am Straßenrand mit der kaum leserlichen Aufschrift Huaquisch machten sie Halt. Der Ort bestand nur aus ein paar strohgedeckten Lehmhütten und einigen Steinhäusern. Vor ihnen lag ein Fluss mit einem wenig vertrauenerweckenden Provisorium aus Brettern und Seilen als Brücke, die von jedem Hochwasser fortgerissen wird. Da sie keine andere Wahl hatten, gingen sie vorsichtig über die wacklige Konstruktion. Auf der anderen Seite wurden sie freundlich begrüßt. Die Frauen, die zu dem Treffen erschienen waren, trugen typische Trachten, sie kamen aus den noch abgelegeneren Andendörfern weiter oben. Und dann endlich kam es zum Foto.
Peru ist ein riesiges Land und es ist ein Land der Vielfalt: Angefangen bei der Geografie, die entgegen der allgemein herrschenden Vorstellung nicht nur aus kargem Andenhochland, sondern auch aus der Küstenzone und dem feuchtheißen immergrünen Amazonastiefland besteht, über die reichhaltigen Naturressourcen, die anregende und opulente Kochkultur bis hin zur Musik und Literatur des Landes. Vieles davon ist faszinierend. Weniger begeisternd sind die politischen Perspektiven. Wenn die PeruanerInnen Anfang Juni in einer Stichwahl ihren neuen Präsidenten bestimmen, haben sie eigentlich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: den Nationalisten und ehemaligen Oberst Ollanta Humala oder den früheren Präsidenten Alan García, den die hiesigen Medien gerne als „Sozialdemokraten“ bezeichnen.
Alan García – war da nicht mal was? Oh ja: Im Juni 1986 schlugen peruanische Sicherheitskräfte mit beispielloser Brutalität eine Revolte politischer Gefangener im Gefängnis Lurigancho in Lima nieder. Bei der Stürmung des Knastes wurden nach Regierungsangaben 334 Häftlinge getötet, das Komitee der Familienangehörigen der politischen Gefangenen sprach von 583 Opfern. Viele von ihnen wurden regelrecht exekutiert. Der politisch Verantwortliche für dieses Massaker, das weltweit Empörung auslöste, war der damalige Staatspräsident Alan García. In seine Amtszeit (1985-90) fiel auch die erste Phase des „Schmutzigen Krieges“ gegen die Guerillaorganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad). Da das Militär die Senderistas anfangs kaum zu fassen bekam, verlegte es sich darauf, diejenigen anzugreifen, die es für deren SympathisantInnen hielt, die indigenen BewohnerInnen der andinen Hochlandregionen, vor allem in der Provinz Ayacucho. Die Senderistas, die so etwas wie die peruanische Version der Roten Khmer waren, terrorisierten ihrerseits die Dörfer, denen sie Kollaboration mit dem Militär unterstellten. Die Folge war ein jahrelanger Krieg, der unter Garcías Nachfolger Alberto Fujimori noch mal verschärft wurde. Darunter hatte vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden: 69 000 Menschen wurden getötet, mindestens 8425 Menschen „verschwanden“. Hunderttausende wurden zu Vertriebenen im eigenen Land. Dieses Morden endete erst Ende der 90er Jahre mit der militärischen Niederlage Senderos. Es hinterließ tiefe Wunden in der peruanischen Gesellschaft, die noch längst nicht verheilt sind. Erst nach dem Sturz des De-facto-Diktators Fujimori im September 2001 begann in der peruanischen Gesellschaft eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und das Gedenken an die Opfer des Schmutzigen Krieges. Eine Wahrheitskommission wurde eingerichtet und brachte das ganze Ausmaß des Terrors, für den beide Seiten gleichermaßen verantwortlich waren, ans Licht.
Trotz der aktuell keineswegs rosigen politischen Perspektiven gibt es aber nicht nur Negatives aus Peru zu berichten. In den vergangenen Jahren hat nach der bleiernen Zeit des Krieges und der Fujimori-Diktatur eine Öffnung stattgefunden, in der sich neue Initiativen und Projekte entwickelt haben. Die sozialen Bewegungen, die nie aufgehört hatten zu existieren, aber vom Fujimori-Regime schwer gebeutelt wurden, gewinnen wieder an Stärke. Die PeruanerInnen lassen sich nicht unterkriegen. Diese ila möchte einen Einblick in dieses Land im Umbruch geben und auf die Probleme ebenso eingehen wie auf die faszinierende Vielfalt. Am Entstehen dieses Schwerpunktes war maßgeblich „unsere Frau in Lima“, Hildegard Willer, beteiligt. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an sie!