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China gilt als die künftige Wirtschaftsweltmacht. Seine Ökonomie wächst um rund zehn Prozent jährlich, seine Industrie wird immer leistungsfähiger. Wobei das Wörtchen „seine“ relativ zu verstehen ist, denn längst lassen multinationale Konzerne aus Europa, den USA und Japan in China produzieren. Trotzdem werden gegen China alte Feindbilder mobilisiert. Bestand früher die vor allem von konservativen Politikern beschworene „gelbe Gefahr“ im kommunistischen Gesellschaftssystem, so ist es heute Chinas Kapitalismus, der die Weltherrschaft anstrebe.

Die Folgen der stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung Chinas werden nicht nur in Europa heftigdiskutiert. In Lateinamerika sind sie genauso ein Thema. Stärker als bei uns wird die Wirtschaftsmacht des Reichs der Mitte allerdings als Chance gesehen, sich teilweise aus der Abhängigkeit von Europa und den USA zu lösen. Die aufgrund der wachsenden Nachfrage Chinas steigenden Preise für zahlreiche Rohstoffe und Agrarprodukte scheinen derartige Erwartungen zu bestätigen. Auch wächst der Handelsaustausch zwischen den Staaten Südamerikas und China rasant und alle Akteure gehen derzeit von einem langfristigen weiteren Wachstum aus. Viele lateinamerikanische Intellektuelle sehen zudem im Erstarken eines wirtschaftlichen und politischen Akteurs aus dem Süden eine Entwicklung zu einer multipolaren Welt, die Räume für neue politische und wirtschaftliche Allianzen eröffnen kann.

Allerdings gibt es auch in Lateinamerika besorgte Stimmen. Zum einen wird darauf hingewiesen, dass China die lateinamerikanischen Länder vor allem als Rohstofflieferanten und Märkte sehe, also eine Handelsstruktur schafft, die im Grunde genommen die alten kolonialen Muster fortsetzt. Zudem gerät die lateinamerikanische Industrie auf den Binnenmärkten wie international zunehmend unter den Druck der chinesischen Konkurrenz, die die entsprechenden Güter erheblich günstiger anbietet. Das gilt insbesondere für die auf den US-Markt ausgerichtete Lohnveredelungsindustrie (Maquilas). Dieser Wirtschaftssektor, der in Mexiko und den meisten mittelamerikanischen Staaten das Rückgrat des gegenwärtigen Entwicklungsmodells bildet, steht mittelfristig aufgrund der wesentlich günstigeren asiatischen – nicht nur chinesischen – Anbieter vor erheblichen Problemen, möglicherweise sogar vor dem Aus.

Die Beziehungen zwischen China und Lateinamerika sind dabei, den Subkontinent nachhaltig zu verändern. Grund genug für uns, ihnen einen Schwerpunkt zu widmen. Dabei beschränken wir uns aber nicht auf den aktuellen Wirtschafts- und Handelsaustausch. Die Beziehungen zwischen beiden Regionen begannen nämlich nicht erst in jüngster Zeit. Schon Ende des 19. Jahrhunderts kamen ChinesInnen in großer Zahl nach Lateinamerika, etwa um nach der Aufhebung der Sklaverei auf den cubanischen Zuckerrohrplantagen oder beim Bau des Panamakanals zu schuften. Das kommt in diesem Heft ebenso zur Sprache wie der kulturelle Austausch.

Viele lateinamerikanische AutorInnen werden auch in China gelesen, nicht nur von einem lesehungrigen Publikum, sondern auch von wichtigen SchriftstellerInnen, die sich wie z.B. der auch in Europa bekannte Mo Yan ausdrücklich auf das Schreiben ihrer lateinamerikanischen KollegInnen beziehen. Und wer hätte gedacht, dass nicht nur Romanciers übersetzt werden, sondern dass auch die wichtigsten Texte des Subcomandante Marcos in China erschienen sind. Und wer die aufmerksam liest– meint seine chinesische Übersetzerin und Herausgeberin in dieser ila – könne nicht nur die Perspektive der Indígenas in Chiapas besser verstehen, sondern auch vieles von der Realität Chinas begreifen. Na dann, viel Spaß beim Lesen!