Eine Bekannte nahm früher gerne am Christopher Street Day in Köln teil. Besonders der Wagen der autonomen Schwulen und Lesben hatte es ihr angetan. Zu Drum ‘n Bass Klängen tanzte sie auf dem Wagen, trank Sekt und fand alles wunderbar bunt und cool. Doch eine Woche später bekam sie am WG-Tisch eine indirekte Rüge: Die Freundin einer Mitbewohnerin hatte sich darüber beschwert, dass „ausgerechnet die Vollblut-Hete aus der WG auf unserem Wagen getanzt hat.“ Hete steht für Heterosexuelle/r. Und heterosexuell war sie durchaus, die Sympathisantin der autonomen Schwulenlesbenszene. Das war ihr letzter CSD, hoch auf dem Wagen. Sie akzeptierte, dass erkämpfte Freiräume manchmal einen exklusiveren Charakter haben und dass sie als privilegierte Mehrheitsgesellschaftvertreterin sich zurückzuhalten habe.
Ein Jahr später war sie in einer lateinamerikanischen Hauptstadt und wollte eine Lesbenkneipe, genauer gesagt die einzige landesweit, kennen lernen. Die Überraschung war groß: Bei gedämpften Licht saßen überwiegend heterosexuelle und schwule und nur einige wenige lesbische Pärchen an ihren Tischen. Sie war etwas enttäuscht und dachte sich, dass die queere community in Lateinamerika schwerer bzw. anders zu (be)greifen war. Vor allem die lesbische Bewegung war viel weniger sichtbar: Die Lesben des Landes trugen auf Demonstrationen zum Internationalen Frauentag Ganzkörperschleier wie afghanische Frauen, um so auf ihre Unsichtbarkeit und ihre Gefährdung hinzuweisen.
Zurück in Deutschland bekam sie Besuch von einem Freund aus demselben lateinamerikanischen Land, der ein paar Monate in ihrer WG lebte. Er war Student und Anhänger von dekonstruktivistischen Theorien. Er bezeichnete sich selbst als bisexuell. Trotz seiner theoretischen Tendenz, Geschlechterrollen in Frage zu stellen, war ihm eine Freundin des Hauses doch etwas suspekt: zu cool, zu mackrig, zu männlich. Eine burschikose Lesbe, die alle Kriterien der Kategorie butch erfüllte. Irgendwie war die „maskuline Frau“ unbequem. Latino-Männer sind doch im Grunde alles Machos, dachte sich unsere Bekannte. Doch gegen Ende seines Aufenthaltes hatten die beiden sich ziemlich angefreundet, die Mackerfrau und der zart besaitete Dekonstruktivist. An seinem Abschiedsabend wurde er gefragt, was ihm am meisten in Deutschland gefallen hätte. Die Vielfalt und die Verwirrung der Geschlechter, die er in Berlin hatte erschnuppern können, lautete seine Antwort.
Verwirrung – die kam auch in den letzten Layout-Tagen auf, als Redaktionsmitglieder, die noch wenig von vorliegender Ausgabe mitbekommen hatten, die muxe’-Fotos sahen: „Da weiß man wirklich nicht, ob das nun Mann oder Frau ist!“ – „Weder noch, das ist ein(e) muxe’, hast du denn nicht den Artikel gelesen?“
Vielfalt – auf die sind wir ebenso gestoßen. Sie fängt bei Begrifflichkeiten und Diskursen an – LGBT (Lesbianas, Gays, Bisexuales, Transgéneros) bzw. das internationale queer sind weithin gebräuchlich – und äußert sich in verstärkter Sichtbarkeit und größerem Selbstbewusstsein sowie in gesetzlichen Errungenschaften. Seit dem schwullesbischen und feministischen Aufbruch der 70er Jahre hat sich in Lateinamerika einiges getan. Dennoch sind Homophobie und Diskriminierungen leider noch nicht überwunden. Fast täglich ist im Internet von gewalttätigen Übergriffen gegen LGBT in Lateinamerika zu lesen.
Trotz aller Vielfalt konnten wir jedoch eines nicht finden: Wir hätten gerne einen lateinamerikanischen Drag King porträtiert. Den gibt es bestimmt irgendwo auf dem Kontinent – vielleicht unter einer anderen Bezeichnung oder nicht so sichtbar wie anderswo. In unserer schwullesbischen Metropole Köln hingegen haben Drag Kings mittlerweile einen sichtbaren Platz im Nachtleben: Das Kingdom of Cologne & Friends organisiert seine „Ausnahmepartys“ mit viel Erfolg. Die Queer Partys für Drag Kings, Lesben, Schwule, Trans & Friends tragen den Zusatz All genders welcome – alle Geschlechter sind willkommen. Hier würde unsere heterosexuelle Sympathisantin bestimmt wieder Spaß haben. Und der lateinamerikanische Dekonstruktivist hätte neues Futter. Und wenn die Ausnahme Normalität ist, dann sind wir der Utopie der Geschlechtergerechtigkeit ein ganzes Stück näher gerückt.
An dieser Stelle noch ein dickes Dankeschön an Marlis Gensler und Klaus Jetz, die maßgeblich zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben.
In dieser ila-Ausgabe zeigen wir Teile einer Fotoserie des italienischen Fotografen Vittorio d’Onofri. Vier Jahre lang hat er sechs muxe’ in Juchitán, Mexiko, in ihrem Alltagsleben begleitet. In den letzten Jahren stellte er seine Fotografien in Einzel- und Gruppenausstellungen in San Francisco und mehreren Städten Mexikos aus und wurde dafür 2001 mit dem Sonderpreis auf der Fotobiennale in Mexiko-Stadt ausgezeichnet.