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„Wir sind endlich Teil dieser Gesellschaft. Der Rassismus hat abgenommen, unser Selbstwertgefühl und unsere kulturelle Identität sind gestärkt, denn dank der neuen Regierung werden unsere Traditionen, unsere Spiritualität und vor allem unsere Sprachen anerkannt.“ Die Autorin und Theologin Vicenta Mamani Bernabé aus El Alto steht ohne Zweifel hinter der Regierung von Evo Morales. Für die Aymara-Frau ist er „unser Bruder, der unseren Kampf, unser Leiden und unsere Hoffnung widerspiegelt.“

Im Dezember 2005 wurde Morales mit 53 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang zum Präsidenten Boliviens gewählt. An seinen Amtsantritt knüpften die sozialen Bewegungen – die zu den stärksten Lateinamerikas zählen – und die von politischer und ökonomischer Teilhabe ausgeschlossene indigene Bevölkerungsmehrheit große Hoffnungen. Drei zentrale Versprechen hatten Morales und seine Partei MAS (Movimiento al Socialismo) an die Spitze des Staates gebracht: die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung, die Nationalisierung der Öl- und Gasvorkommen sowie eine umfassende Landreform.

Tatsächlich konnte im letzten Dezember der neue Verfassungsentwurf, nachdem die „Constituyente“ länger als geplant getagt hatte, vorgestellt werden. Indigene VertreterInnen hatten allerdings das Procedere kritisiert, weil nicht, wie vorgeschlagen, direkte RepräsentantInnen der sozialen und indigenen Organisationen, sondern letztlich doch nur ParteivertreterInnen an der Verfassunggebenden Versammlung beteiligt waren. Dadurch sei die parteipolitische Rechte wieder gestärkt worden, meint auch Vicenta Mamani Bernabé. Über die neue Verfassung soll die Bevölkerung in einem Referendum abstimmen. Anfang März hat das Nationale Wahlgericht jedoch alle für 2008 angekündigten Referenden vorerst suspendiert – aus organisatorischen, juristischen und politischen Gründen.

Somit ist auch die Landreform blockiert, über die ebenso dieses Jahr abgestimmt werden sollte. Ihre Umsetzung stößt vor allem auf den erbitterten Widerstand der Großgrundbesitzer und des Agrobusiness, die auch vor tödlicher Gewalt gegen Opponenten nicht zurückschrecken. Im Hinblick auf die Öl- und Gasvorkommen kann der Regierung zugute gehalten werden, dass der Staat nun höhere Abgaben von den ausländischen Förderunternehmen verlangt, von einer vollständigen Nationalisierung kann jedoch keine Rede sein. Erhöhte Abgaben sowie hohe Rohstoffpreise haben ein beachtliches Wirtschaftswachstum zur Folge. Die Mehrheit der Bevölkerung kämpft hingegen mit der gestiegenen Inflation. Die Erhöhung des Mindestlohns, ermäßigte Stromtarife für Bedürftige oder Sozialprogramme für RentnerInnen und Schulkinder, die die größte Not lindern helfen sollen, reichen den meisten nicht aus. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst.

Noch stärker als von der eigenen sozialen Basis wird die Regierung von der rechten Opposition und den alten Eliten unter Druck gesetzt. Die rohstoffreichen Tieflanddepartements des so genannten „Halbmondes“ wollen ihre Privilegien und vor allem die hohen Einkünfte aus der Erdölförderung auf keinen Fall preisgeben. Mit allen Mitteln versuchen die oppositionellen Präfekten die Regierung Morales zu schwächen und mobilisieren für die Autonomie ihrer Provinzen. Vor allem Santa Cruz hält an seinem Autonomie-Referendum am 4. Mai fest. Was passiert danach? Lässt die Regierung zu, dass all ihre Bemühungen und hart erkämpften Kompromisse zunichte gemacht werden, dass eine rechte Clique Regierungsdekrete zurücknimmt und die schreiend ungerechte Landverteilung in Santa Cruz zementiert? In Pando, einem anderen Teil der „Media Luna“, haben Ende April immerhin 10 von 13 Bürgermeistern das vorgeschlagene Autonomiestatut abgelehnt, da die Bevölkerung an dessen Ausarbeitung nicht beteiligt gewesen sei. Deshalb ist in diesem Departement die Volksabstimmung zur Autonomie auf unbekannte Zeit verschoben worden. Es bleibt also spannend. Und es steht viel auf dem Spiel, denn in Bolivien findet zur Zeit – trotz aller berechtigten Kritik – einer der interessantesten Reformprozesse Lateinamerikas statt. Bei den massiven Destabilisierungsversuchen grenzt es fast schon an ein Wunder, dass sich die Regierung so lange halten konnte.

Was ist nun übrig geblieben vom bolivianischen Neuanfang, der vor gut zwei Jahren so hoffnungsfroh startete? Was wurde tatsächlich erreicht und wo liegen die größten Hindernisse für den Reformprozess? Diesen Fragen möchte die ila mit dem vorliegenden Schwerpunktheft nachgehen.