Die Grenzbeamten am Flughafen von Ciudad Juárez stellen Leuten, die die Stadt besuchen wollen, häufig die Frage: „Was wollen Sie hier mitten in der Wüste? Hier ist es hässlich, fahren Sie lieber in den Süden!“
In den letzten Jahren gelangte die nordmexikanische Metrople zu trauriger Berühmtheit wegen der feminicidios (den systematischen Morden an Frauen, die straflos bleiben). Feminicidios gibt es nicht nur in Ciudad Juárez sagen dann ihre BewohnerInnen. Ciudad Juárez ist vor allem eine riesige Konzentration von Maquiladoras, den auf den US-Markt orientierten Fertigungsbetrieben. Dazu passt, dass die Stadt von den politisch Verantwortlichen offensichtlich nur als Ansammlung von Arbeitskräften gesehen wird und nicht als Lebensraum von Menschen. Die öffentliche Infrastruktur ist desolat: Die meisten Straßen sind nicht befestigt, es gibt keine Bürgersteige und erst recht keine Straßenbeleuchtung. Kommunale Wasserversorgung und Abwassersystem sind ebenso inexistent, es gibt kaum Kindergärten, was insbesondere alleinerziehende Mütter vor riesige Probleme stellt. Und dann ist Ciudad Juárez auch noch Grenzstadt zu den USA, mit den entsprechenden Folgen: Schmuggel, Schlepper, Drogenhandel, Abschiebungen.
Wenn man nach Ciudad Juárez kommt und die Leute fragt, was man in der Freizeit machen könnte, lautet die Antwort: in den Bars einen trinken gehen. Nach einigen Tagen stellt man sich die Frage, was Ciudad Juárez eigentlich so unwirtlich macht: das feindselige Klima, die Wüste um einen herum oder die vielen nicht befriedigten Bedürfnisse? Die Antwort fällt nicht leicht, aber die „soziopolitische und kulturelle Wüste“ ist auf jeden Fall ein wichtiger Punkt. Gäbe es den politischen Willen dazu, könnte sich diese Wüste in eine blühende Wiese verwandeln. Schließlich steht Juárez an fünfter Stelle landesweit, was die Reichtumserzeugung anbelangt, ist das sechstgrößte Siedlungsgebiet Mexikos und die viertproduktivste Stadt ganz Lateinamerikas.
Seit einigen Monaten sind in der Stadt Truppen des mexikanischen Bundesheeres stationiert, angeblich um den Drogenhandel zu bekämpfen. Die Folge: Durch den Stich ins Wespennest hat die Anzahl der Morde im Zusammenhang mit dem Drogenhandel sogar noch zugenommen. Ebenso zugenommen haben die Menschenrechtsverletzungen von Seiten der Soldaten, die – wie es in Mexiko Tradition ist – straflos bleiben.
Gibt es also nur Schlechtes über die Stadt zu berichten? Auf den ersten Blick vielleicht ja, aber es gibt dort auch Leute, die ihre Stadt lieben und etwas dafür tun, dass sich die Dinge ändern. Da gibt es die Familienangehörigen der feminicidio-Opfer, die sich in der Organisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa („Unser Töchter sollen nach Hause zurückkommen“) zusammengetan haben und trotz Drohungen und Verleumdungen nicht einschüchtern lassen. Das Kulturnetzwerk Pacto por la Cultura ist ein weiteres Beispiel oder auch die Theatergruppe Telón de Arena, die Stücke mit sozialen Inhalten in die marginalisierten Stadtviertel bringt. Sie alle kämpfen dafür, dass in der Stadt ein gutes Leben möglich ist. Ihnen gilt unser Respekt und vor allem unsere Solidarität.
In einem argentinischen Tango heißt es, „Selbst die Hässlichste hat ihre schönen Seiten.“ Dies trifft auch auf Ciudad Juárez zu. Das Schönste an der Stadt sind ihre BewohnerInnen, die juaritos, wie sie sich selber bezeichnen – sie sind bezaubernd, offen, fröhlich, großzügig, gastfreundlich und immer zum Feiern bereit.
An dieser Stelle möchten wir Daniel Tapia vom Ökumenischen Büro in München danken, der uns die Kontakte zu den juaritos ermöglicht hat und mit dem wir diesen Schwerpunkt erstellt haben.
Alle Fotos aus dem Städteschwerpunkt und das Titelbild stammen von dem Künstlerpaar Adrián Valverde und Guadalupe del la Mora. Beide leben und arbeiten in Ciudad Juárez. Adrián Valverde, Jahrgang 1965, fotografiert seit 20 Jahren. Seine letzte Arbeit ist eine Serie von Luftaufnahmen von Ciudad Juárez, von denen einige in diesem Heft zu sehen sind. Guadalupe del la Mora hat als Schauspielerin seit 1984 an mehr als 50 Aufführungen mitgewirkt, ist außerdem Koautorin eines Buches über die feminicidios in Ciudad Juárez und arbeitet im Moment als Kulturmanagerin für die Autonome Universität in Ciudad Juárez. 1991 begann sie zu fotografieren und beteiligte sich wie auch Adrián Valverde an mehreren Einzel- und Gruppenausstellungen. Der Artikel über Kultur in Ciudad Juárez (S.12-13) stammt von ihr.