Bei dem Stichwort „Wahrheitskommissionen“ fällt vielen zunächst die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission ein, die ab 1996 die Verbrechen des Apartheid-Regimes untersuchte und einen großangelegten Versöhnungsversuch startete. Doch die Wahrheitskommission als institutionalisiertes Instrument zur Vergangenheitsaufarbeitung hat ihren Ursprung in Lateinamerika: Bereits ab den 80er Jahren entwickelte sich dort diese – damals – neuartige Form der kollektiven Vergangenheitsbewältigung. Bereits 1983 nahm die „Nationale Kommission über das Verschwindenlassen von Personen“ (CONADEP) in Argentinien ihre Arbeit auf.
Jüngere Beispiele sind die Wahrheitskommissionen in Guatemala (1999) und Peru (2001-2003), deren Arbeitsweise und Ergebnisse Anlass zu heftigen Debatten gaben. In einigen Ländern wurde bereits eine zweite Wahrheitskommission eingesetzt, zum Beispiel in Chile, wo die Verhaftung Pinochets 1998 neuen Wind in die Vergangenheitsdebatte brachte. Aktuellstes lateinamerikanisches Beispiel ist die paraguayische Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit, die am 28. August 2008 ihren Abschlussbericht über die Verbrechen des Stroessner-Regimes und der Übergangsjahre zur Demokratie vorgestellt hat – knapp 20 Jahre nach Abdanken des deutschstämmigen Diktators.
Wahrheitskommissionen sind mittlerweile zu einem standardisierten Aufarbeitungsinstrument geworden, für das in vielen lateinamerikanischen, aber auch afrikanischen und asiatischen Ländern ExpertInnen aus aller Welt im Einsatz sind. Sie werden als Instrument eingesetzt, um den Übergang zu demokratischen Gesellschaftsformen zu gewährleisten. Aber auch in Gesellschaften, in denen bewaffnete Konflikte nach wie vor wüten, gibt es Bemühungen zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen der (jüngsten) Vergangenheit; hierfür ist Kolumbien und die Initiative Colombia Nunca Más ein wichtiges Beipiel.
Neben den Bemühungen, die Wahrheit „auszugraben“ und Menschenrechts- und Kriegsverbrechen zu dokumentieren, gibt es derzeit in mehreren lateinamerikanischen Ländern Anzeichen, dass auch die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit Fortschritte macht. Infolge von Regierungswechseln und Revisionen von Amnestiegesetzen sind Strafverfahren wieder aufgenommen oder neu eröffnet worden, z.T. gegen einige der wichtigsten Köpfe der ehemaligen Militärregime.
Die Annullierung der Amnestiegesetze in Argentinien z.B., wo der Oberste Gerichtshof 2005 festhielt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Folter und Verschwindenlassen nicht verjähren und somit nicht von der Strafverfolgung ausgeschlossen werden können, führte zu einer verstärkten Wiederaufnahme von Fällen vor Gericht. Argentinien ist gleichzeitig ein gutes Beispiel für das Fortwirken alter Seilschaften aus Diktaturzeiten: Jorge Julio López, Kronzeuge im Prozess gegen den Folterer und Polizeioffizier Miguel Etchecolatz, „verschwand“ am Tag der Gerichtsverhandlung, bei der er aussagen sollte. Das war am 18. September vor zwei Jahren – bis zum heutigen Tag ist über sein Schicksal nichts bekannt. Am 21. September 2008 gingen in vielen argentinischen Städten (und sogar in Madrid) Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen Straflosigkeit und Vertuschung im Fall Julio López und darüber hinaus zu demonstrieren. Bei Demonstrationen zum Verbleib dieses emblematischen „Verschwundenen in Demokratiezeiten“ blieben auch die 30 000 „Verschwundenen“ der Diktatur nicht unerwähnt. Die gleichen Menschenrechts- und Angehörigenorganisationen, die z.T. schon seit über 20 Jahren gegen die Straflosigkeit kämpfen, wie die abuelas, die Großmütter, oder die HIJOS, die Kinder der Verschwundenen, sind bei der Mobilisierung für Julio López mit dabei.
Ohne die unermüdlich arbeitenden Gruppen und Menschenrechtsorganisationen, die damals wie heute für „Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung“ in Lateinamerika auf die Straße gingen und gehen, wäre auch die offizielle, institutionalisierte Vergangenheitsaufarbeitung nicht dort, wo sie heute steht. In einigen Ländern, wie z.B. Brasilien, hat es niemals eine offizielle Wahrheitskommission gegeben, deshalb wurde Brasilien auch schon als das „rückständigste Land in Sachen Vergangenheitspolitik“ bezeichnet. Dafür erschien dort der viel beachtete und zitierte Bericht „Brasil Nunca Mais“ der Katholischen Kirche. Und zur Zeit gibt es auf höchster Regierungsebene eine Debatte zum umstrittenen Amnestiegesetz. Vergangenheit ruht nicht, der Kampf geht weiter. Dafür gibt es im Moment in Lateinamerika viele spannende Beispiele, wie die Beiträge des Schwerpunktes in diesem Heft belegen.