Der November ist in den christlich geprägten Regionen Europas und Lateinamerikas der Monat des Totengedenkens. Dies wird jedoch höchst unterschiedlich ausgedrückt. Assoziieren wir in Deutschland damit eine eher dunkle, getragene Stimmung, haben die Gedenktage im November, vor allem Allerheiligen, in vielen Regionen Lateinamerikas einen sehr lebendigen Charakter. Durch verschiedene Ausstellungen und Fernsehbeiträge sind bei uns vor allem die Totenfeiern an Todos Santos in Mexiko bekannt geworden. Dort kommen die Menschen zu Tausenden auf die Friedhöfe, es herrscht eine fröhliche Stimmung, ambulante HändlerInnen bieten Speisen und sogar alkoholische Getränke an, Familien essen vor den Gräbern ihrer Verstorbenen – bevorzugt deren Lieblingsgerichte – und die Kinder naschen Süßigkeiten in Form von Totenköpfen. Doch nicht nur in Mexiko gibt es diesen Tanz auf dem Grab, auch andernorts, etwa in Bolivien und Peru, wird an Allerheiligen mit den Toten gefeiert.
Das bedeutet natürlich keineswegs, dass der Tod für die Menschen in den erwähnten Ländern Lateinamerikas weniger Schrecken hat und weniger angstbeladen ist als bei uns. Es zeigt aber, dass der Tod und die Erinnerung an die Toten viel stärker und bewusster in das Leben integriert und damit auch weniger tabuisiert sind. Dies gilt nicht nur an Allerheiligen. Bei einem Todesfall kommen in vielen Gegenden die Verwandten, FreundInnen und NachbarInnen zu den Angehörigen, um in ihrem Schmerz bei ihnen zu sein, zu reden, Erinnerungen und Anekdoten über die Verstorbenen auszutauschen, wobei es durchaus auch mal lustig werden kann. Dies sei früher doch bei uns auf dem Land auch üblich gewesen, erzählten einige in unserer AG zu diesem Schwerpunkt. Erst mit der Urbanisierung sei diese kollektive Anteilnahme verschwunden, sei die Trauer zu etwas Privatem geworden, wahre man Distanz zu den Angehörigen und schüttele ihnen bei der Beerdigung nur stumm die Hand.
Ist der offenere Umgang mit Tod und Sterben in Lateinamerika also eher ein Relikt agrarischer Kulturen vorindustrieller Zeiten? Auch wenn der Umgang mit dem Tod und die Beerdingungsformen bei den Mittelschichten in Metropolen wie Buenos Aires oder São Paulo weitaus mehr Ähnlichkeiten mit denen in Europa oder den USA aufweisen als mit denen in den bolivianischen Anden, im mexikanischen Oaxaca oder im kolumbianischen Chocó, waren wir mehrheitlich der Meinung, dass es zu kurz greift, den unterschiedlichen Umgang mit dem Tod nur mit dem Grad an Modernität und Arbeitsteiligkeit einer Gesellschaft zu erklären. Denn es hat auch ganz viel mit der Bereitschaft der Menschen zu tun, Identitäten und kulturelle Errungenschaften zu bewahren und neu zu entwickeln. Nachdem man bei uns über Jahrzehnte die Organisation von Abschied und Beerdingung Profis (Beerdigungsinstituten, PfarrerInnen, professionellen Beerdigungsrednern) überlassen und damit aus der Hand gegeben hat, beginnen immer mehr Menschen, Trauerfeiern selbst zu gestalten: Menschen, die dem oder der Verstorbenen nahe standen, sprechen über ihre persönlichen Erinnerungen, es wird die Musik gespielt, die der oder die Tote mochte, Texte vorgelesen, die ihnen wichtig waren. Statt standardisierter Blumengebinde wird um Geld für Projekte gebeten, die ihnen am Herzen lagen.
Im Gedenkmonat November thematisieren wir in einem ila-Schwerpunkt erstmals den Umgang mit Tod und Sterben in Lateinamerika. Leitfragen für uns waren dabei: Wie wird Abschied und Totengedenken in verschiedenen Kulturen und Regionen praktiziert? Welchen Raum nehmen Erinnerung und Rituale im gesellschaftlichen Gefüge ein? Welche Rolle haben Verstorbene in kollektiven Mythen? Wie verändern Modernisierung und Urbanisierung das Verhältnis zum Tod? Welche Bedeutung haben Begräbnisse und Begräbnisstätten (oder deren Verweigerung) im politischen Kontext? Wie setzen sich lateinamerikanische Künstler und Künstlerinnen mit dem Tod auseinander?
Wir hoffen, dass dieser zweifellos ungewöhnliche ila-Schwerpunkt bei unseren LeserInnen auf Interesse stößt. Für uns war die Arbeit daran jedenfalls eine sehr interessante Erfahrung und Auseinandersetzung.
P.S. Aus aktuellem Anlass haben wir in diese Ausgabe auch ein kleines Dossier zur Finanzkrise und deren Auswirkungen auf Lateinamerika aufgenommen. Diese Debatte möchten wir in den nächsten Ausgaben fortsetzen. Apropos Finanzen: Nicht nur die Banken, sondern auch die ila braucht eine Finanzspritze. Da wir unser Geld nicht verzockt haben, sondern für die Publikation unserer Zeitschrift ausgegeben haben, kommen wir leider nicht in den Genuss der Milliardenhilfen der Bundesregierung. Deshalb müssen wir auch in diesem Jahr unsere LeserInnen um Hilfe und die freundliche Beachtung des beiliegenden Bettelbriefes bitten.