Auf kaum einer Dorffeierlichkeit, Geburtstagsfeier oder Hochzeit in den nordmexikanischen Bundesstaaten Sinaloa und Durango fehlen sie: die narcocorridos, die für Nordmexiko typische Norteña-Musik mit epischen Texten über berühmte und weniger bekannte Persönlichkeiten aus dem Drogengeschäft. Die sog. narcocultura ist in Nordmexiko selbstverständlicher Teil des Alltags. Dazu gehören auch religiöse Praktiken, wie die Verehrung des Schutzheiligen aller narcos, Jesús Malverde. Verbote bewirken wenig – so haben z.B. die Behörden in Sinaloa die narcocorridos aus allen Radio- und Fernsehstationen verbannt, doch in Zeiten von raubkopierten CDs und Internetdownloads wirken diese Bemühungen rührend altbacken.
Neben solchen Anekdoten hat es in den letzten Wochen viele Schreckensmeldungen über Mexiko und seinen eskalierenden „Drogenkrieg“ gegeben: Allein 8000 Morde in den letzten 18 Monaten werden diesem bewaffneten Konflikt zugeschrieben. Doch handelt es sich bei den zunehmend brutaler werdenden Kämpfen der mexikanischen Drogenkartelle um Drogenrouten und Drogenhandel sowie der Gegenmaßnahmen des mexikanischen Militärs um einen Krieg? Haben wir hier gar einen der so genannten „neuen“ oder „asymmetrischen“ Kriege? Im Januar wurde vom Pentagon gewarnt, Mexiko befände sich auf dem besten Wege zu einem failed state, da der Staat die Kontrolle über bestimmte Teile des Staatsgebiets zu verlieren drohe. Das politisch Brisante an solchen Definitionen ist, dass bestimmte Einstufungen militärische Interventionen rechtfertigen. Passend dazu gibt es auch Aufrüstungspläne für die US-Südgrenze, die Gouverneure der Südstaaten fordern seit Wochen die Entsendung Tausender Nationalgardisten an die Grenze, was die Obama-Administration jedoch bisher abgelehnt hat.
Eine andere interessante Definition der aktuellen Gewaltexzesse auf mexikanischem Gebiet kommt vom Los-Angeles-Times-Reporter Sam Quinones: „Mexiko wird von einem kriminell-kapitalistischen Aufstand vernichtet.“ Drogengeschäfte und Drogenmorde mit „Aufstand“ zu bezeichnen, ist nun wirklich leicht daneben. Wobei „kapitalistisch-kriminell“ eine wirklich originelle Kombination ist. Und tatsächlich hat dieses kapitalistisch-kriminelle Modell dafür gesorgt, dass enorme Summen Drogengeldes unbehelligt in Steuerparadiesen und „phantasiereichen Finanzprodukten“ angelegt wurden.
Definitionen hin oder her – selbst die US-Anti-Drogen-Behörde DEA hat nun Ende März offiziell anerkannt, dass der „Krieg gegen die Drogen“ gescheitert ist – zumindest innerhalb der USA, „weil wir immer noch Drogenmissbrauch in den USA haben“, so Michelle Leonhart von der DEA vor einem Unterausschuss des Repräsentantenhauses. In dieser Sitzung erkannte sie auch die Verantwortung der USA für Mexikos Probleme mit dem Drogenhandel an. Auch Außenministerin Clinton, die Ende März Mexiko besuchte, ging in ihren statements auf die Rolle der USA ein: Die US-DrogenkonsumentInnen würden den mexikanischen Kartellen einen Gewinn von 25 Milliarden US-Dollar jährlich ermöglichen, mit der sie ihre Gewaltkampagne im Nachbarland aufrecht erhalten könnten. Und 60 Millionen US-AmerikanerInnen, die an der Grenze zu Mexiko wohnen, wären ebenso vom Drogenkrieg im Nachbarland betroffen. In der Tat spricht der Anstieg von Entführungen, Lösegelderpressungen und brutalen (Auftrags-)Morden in US-amerikanischen Städten für die zunehmende Präsenz von mexikanischen Kartellen vor Ort. Laut Angaben des US-Außenministeriums kontrollieren sie in etwa 230 Städten der USA mittlerweile den Handel mit illegalen Drogen.
Bei so viel Einsicht und Selbstkritik verwundert es, dass sich US-VertreterInnen gegen einen neuen Ansatz in der internationalen Drogenpolitik sperren. Mitte März verwehrten sich die USA auf dem Treffen der UN-Suchtstoffkommission in Wien neben befreundeten Ländern wie Kolumbien und weniger befreundeten Ländern wie Cuba strikt gegen den Ansatz der Schadensminderung (harm reduction). Diesem Ansatz zufolge soll die Drogenthematik verstärkt als Gesundheitsproblem betrachtet werden, entsprechende Maßnahmen wie Substitutionsprogramme, medizinische Behandlung von Drogenabhängigen etc. gelte es zusammen mit Präventionsarbeit und Aufklärung zu stärken. Sinnvolle Vorschläge, die meilenweit entfernt von anderen alternativen Ansätzen wie z. B. einer schrittweisen Entkriminalisierung von Drogen – angefangen bei Cannabis – liegen. Solche Diskussionen gibt es zwar aktuell, z.B. bei der Lateinamerikanischen Kommission zu Drogen und Demokratie, doch nicht in den Machtzentren. Da hilft auch nicht viel, dass Obama in seiner Studentenzeit mal gekifft hat. Oder dass die Tochter von US-Vizepräsident Joe Biden angeblich beim Ziehen einer line gefilmt worden ist. Kiffen, Koksen und Co. ist für fast fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung weltweit angesagt. Dass im Hinblick darauf neue Wege beschritten werden müssen, zeigt nicht nur der Drogenkrieg in Mexiko.