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Ernährungssouveränität

Fernsehköche verdienen viel Geld mit Kochbüchern und Sendungen, in denen so schlichte Gerichte wie Bratäpfel erklärt werden, tiefgründige Erkenntnisse inklusive: „Wer selber kocht, lebt nicht nur gesünder, sondern spart auch Geld.“ Gleichzeitig wird häufig vermeldet, dass hierzulande die Kulturtechnik Kochen bedroht ist: Immer weniger Menschen können kochen. Damit – und nicht mit dem niedrigen Regelsatz – wird dann auch erklärt, warum viele Hartz-IV-EmpfängerInnen nicht über die Runden kommen.

Bei der Erarbeitung dieser Ausgabe haben wir jedoch nicht nur über Kochen und Kochrezepte geredet, sondern uns auch mit komplexen Konzepten auseinandergesetzt – Ernährungssicherheit, Ernährungssouveränität, Ernährungsautonomie oder gar Ernährungsharmonie. Was steckt bloß dahinter und welche Bedeutung haben sie für Lateinamerika?

Laut Welternährungsorganisation FAO gibt es weltweit etwa eine Milliarde Menschen, die chronisch unterernährt sind. Nach dem Hungerkrisenjahr 2008 ist in Lateinamerika die Zahl der Hungernden 2009 um 12,8 Prozent gestiegen. Auf großen Gipfeltreffen wird seit Jahren darüber gesprochen, wie der Hunger in der Welt bekämpft werden kann. Die UN verabschiedete ihre Millenniumsziele, wobei die Halbierung des Hungers an vorderster Stelle steht, die G8-Staaten versprechen Hilfe für die Allerärmsten und die Welternährungsorganisation FAO hat erklärt, dass die Produktion von Agrotreibstoffen „nachhaltig“ sein muss, damit die Nahrungsmittelproduktion nicht gefährdet wird. Eine Forderung, die auch in Lateinamerika Brisanz hat.

Doch der Grund für den Hunger auf der Welt sind nicht fehlende Lebensmittel. In Europa machen immer wieder Nachrichten von der Überproduktion die Runde. Europäisches Milchpulver, Geflügel oder Tomatenmark zerstört mit seinen Dumpingpreisen in anderen Ländern lokale Märkte. Fast sechs Milliarden Euro Agrarsubventionen erhalten deutsche Bauern und Unternehmen jährlich von der EU. Davon profitiert besonders die Agrarindustrie. Im Juni hat die Bundesregierung eine Liste mit den Empfängern von EU-Agrarsubventionen veröffentlicht: An der Spitze steht die Südzucker AG, die im Jahr 2008 34,4 Millionen Euro erhielt, andere Namen auf der Liste sind die Agrarhandelsfirma August Töpfer oder der Milchverarbeiter Campina. Hohe Summen fließen also jährlich an Lebensmittelkonzerne, große Schlachthöfe und Molkereien – sieht so der Schutz der heimischen Landwirtschaft aus.

Damit wird ein anachronistisches System gestützt, dass in Süd wie Nord die Landwirtschaft zerstört. Agrarexperten haben berechnet, dass die heutigen landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten eigentlich ausreichen, um die Weltbevölkerung zu ernähren, auch die für 2050 prognostizierten 9,2 Milliarden Menschen. Allerdings müsste unser Fleisch- und Fischkonsum drastisch gedrosselt werden. Das weltweit vorherrschende Agrarmodell, das auf den Export von landwirtschaftlichen Rohstoffen und auf industrialisierte Massentierhaltung setzt, gerät immer breiter in die Kritik.

Ein beliebter Trick aus der Zauberkiste der Agrarindustrie ist der Verweis auf die sog. Grüne Gentechnik. Ihr Einsatz wird häufig damit begründet, dass damit bessere Erträge erzielt werden können, um so den Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Erfrischend unverblümt wird dieses Argument von Hans Rudolf Herren vom Weltlandwirtschaftsrat konterkariert: „Die Verbesserung der Ernährungslage war nicht das Ziel der Züchtung der heute erhältlichen gentechnisch veränderten Sorten“, verlautbarte er vor kurzem in der Süddeutschen Zeitung.

Mitte Juli geisterte eine sensationelle Nachricht durch die Internetforen: Die ursprünglich südamerikanische Getreidesorte Amaranth (hierzulande bekannt als Müslizusatz) zeigt sich resistent gegen Monsantos Pflanzengifte und greift als „Superunkraut“ die Gensojapflanzungen an. Müsli schlägt Gentech – das kommt unseren Vorstellungen von Ernährungssouveränität schon viel näher! 


Dossier

2   Von alten und neuen Krankheiten
Ursachen und mögliche Auswege für die Nahrungsmittelkrise in Lateinamerika
/ von Peter Rosset

5   Sicher oder souverän?
Was sich hinter den verschiedenen Konzepten zur Hungerbekämpfung verbirgt
/ von Armin Paasch

9  Die Seele der Nahrung
Andine Bauernkulturen und das Konzept der Nahrungsmittelharmonie  / von ABA 

10   Festival der illegalen Landaneignung 
Brasilien: Neues Gesetz zur Übertragung von Landtiteln begünstigt Großagrarier
/ von Kirsten Bredenbeck

12   Agrarreform in Brasilien: Ernüchternde Zahlen  / von Kirsten Bredenbeck

13   Nicht nur Feldarbeit
Die kleinbäuerliche Landwirtschaft im globalen Agrarsystem  / von Olaf Bernau

16  Ausländischer Mais für inländische Hühner
Kolumbien verzichtet auf Ernährungssouveränität  / von Bettina Reis

18  Vom Essen und vom Geschäft
Die ecuadorianische Bananenindustrie und die europäischen Zölle  / von Frank Braßel

20  Das Paradox der cubanischen Landwirtschaft
Überlegungen zur ökologischen Landwirtschaft auf Cuba  / von Miguel A. Altieri

23  Ochsen statt Traktoren
Cuba: Landflucht oder Flucht aufs Land?  / von Jorge Weis

25  Samen, die wandern
Kolumbien: Austausch von Saatgut und bäuerlichem Wissen  / von Diana Castillo und Bettina Reis

26   Criollo-Saatgut für Uruguay
Landesweite Initiative organisiert den freien Tausch von einheimischem Saatgut
/ von Marcelo Fossatti

27  Das Null-Hunger-Programm geht an der Realität der Leute vorbei
Interview mit Nereyda González vom nicaraguanischem „Verein für Bildung und Kommunikation“
La Cuculmeca  / von Britt Weyde

30   Die Töchter des Mais
Über den Kampf der Künstlerinnen von Mamaz  / von Viola Campos

Berichte & Hintergründe

4  Ach wie gut, dass niemand weiß…
Die Putschisten in Honduras verweigern sich kategorisch jedem Lösungsvorschlag
und verschärfen die Repression  / von Erika Harzer

6  Zwei Monate Widerstand gegen den Militärputsch in Honduras  / von Magdalena Heuwieser

8  Wir werden bedroht und verfolgt
Interview mit Silvia Ayala, einer der fünf Abgeordneten der honduranischen Linkspartei
Unificación Democrática (UD) / von Günter Pohl

9  Gratwanderung beim Plan Global Anticrisis
Drei Monate linke Regierung in El Salvador / von Angela Reyes

12  Prekäres Patt im Machtgefüge
Nachlese zu den Parlamentswahlen in Argentinien am 28. Juni 2009
/ von Roberto Frankenthal

15   Jetzt amtlich: Zanon gehört den Arbeitern
Die bekannteste besetzte Fabrik Argentiniens wurde der Belegschaft übergeben
/ von Alix Arnold

16   Make peace, not war
Wirbel um Nutzung / von Kolumbiens Militärbasen durch US-Streitkräfte
/ von John Lindsay-Poland

18   Prinzip Hoffnung versus höchstmögliche Effizienz
Interview mit Rubén Valencia Núñez von der sozialen Bewegung Oaxacas (Mexiko)
/ von Anna Dobelmann

20   Frauen machen gerade die Revolution
Interview mit der nicaraguanischen Feministin Mayra Sirias  / von Bettina Hoyer

22  Solidarisch mit der FSLN-Regierung?
Dritter Diskussionsbeitrag zur Nicaragua-Solidarität  / von Klaus Heß

26   Betrifft: Antiimperialismus der dummen Kerls
Debatte zur Irapolitik der Regierung Chávez

Kulturszene

28  Ohne Kultur kein Kampf
Interview mit den kolumbianischen Rappern von Los Renacientes / von Britt Weyde

30   Feministische Gebete
Lyrik der nicaraguanischen Poetin Michèle Najlis  / von Erna Pfeiffer

31  Forget the rest
Salvador Plascencia legt einen fulminanten Erstlingsroman vor  / von Gaby Küppers

Ländernachrichten / Poonal

32  Peru, Cuba, Argentinien, Brasilien, Mexiko

Solidaritätsbewegung

34  Immer noch und wieder im Umbruch
Zwei neue Bücher über soziale Bewegungen und den Kampf gegen Straflosigkeit in Lateinamerika
/ von Thea Struchtemeier

35  Notizen aus der Bewegung