Jetzt ist sie in trockenen Tüchern, die „Herdprämie“. Wer sein Kind bis zum Alter von drei Jahren zu Hause betreut und in keine Kita schickt, erhält für diesen Aufwand 150 Euro im Monat. Die konservative Familienpolitik der neuen Bundesregierung sieht außerdem einen erhöhten Kinderfreibetrag vor (von dem nur Gutverdienende profitieren) und 20 Euro pro Monat mehr Kindergeld. Können wir uns, so wir denn Nachwuchs haben, über diese Zückerchen freuen? Das mit solchen Maßnahmen gestützte Familienmodell stößt eher übel auf. Außerdem bemängeln ExpertInnen immer wieder, dass Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Ländern zu viele individuelle Familienleistungen ausbezahlt, anstatt das Geld in Infrastruktur und Personal zu stecken, also in mehr – im Idealfall kostenfreie! – Betreuungsplätze, besser ausgebildete und bezahlte ErzieherInnen, gute Verpflegung etc. Im Frühsommer 2009 erhitzte der Streik der ErzieherInnen in Deutschland die Gemüter von Eltern, PolitikerInnen und Medienleuten. Die Diskussion über die Qualität der frühkindlichen Betreuung und Erziehung beherrschte wochenlang die Gazetten und Magazine. Der erzielte Kompromiss erfüllt zwar längst nicht alle Forderungen des unterbezahlten und chronisch überlasteten Betreuungspersonals, ist jedoch ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Bei den Debatten gab es oft Verweise auf andere europäische Länder und ihre Betreuungsmodelle. Aber wie sieht es in Lateinamerika aus? Welche Betreuungsarten gibt es, wie organisieren die vielen Alleinerziehenden ihren Alltag mit Kindern? Ist es wirklich so, dass die Großfamilie schon alles richten wird, oder handelt es sich hierbei vielmehr um einen gut gepflegten Mythos? Wie wichtig ist den einzelnen Ländern die Bildung der Allerkleinsten, sprich wie wird die Ausbildung des jeweiligen Betreuungspersonals organisiert? Wie funktionieren in Lateinamerika gesellschaftliche Einschluss- bzw. Ausschlussmechanismen aufgrund der qualitativ unterschiedlichen Betreuungsarten? Welche Besonderheiten in der frühkindlichen Erziehung gibt es auf dem Land, in indigenen oder Afro-Gemeinden?
Bei unseren Recherchen für diese Ausgabe sind wir auf einige bekannte Problemlagen gestoßen: Obwohl einige lateinamerikanische Länder ein bis zwei Jahre obligatorische Vorschulerziehung festgelegt haben, gibt es auch dort viel zu wenig Betreuungsplätze, vor allem für die Kinder unter drei Jahren. Private Anbieter springen in die Bresche, was wiederum eine starke soziale Selektion von allerkleinsten Kindesbeinen an befördert. Für bedürftige Bevölkerungsgruppen gibt es punktuelle Angebote von kirchlichen Trägern, im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit oder von der lokalen Bevölkerung mitgestaltete Kinderhorte (wie z.B. der in dieser Ausgabe vorgestellte Wawauta-Kinderhort in La Paz oder der Kindergarten „Kleine Schritte“ in Montevideo), die mitunter anspruchsvolle Ziele verfolgen aber häufig nur den berühmten Tropfen auf den heißen Stein darstellen.
Viele Programme richten sich ausnahmslos an Frauen, da von vorneherein davon ausgegangen wird, dass sich die Herren der Schöpfung bei der Aufzucht der eigenen Brut vornehm zurückhalten. Und die Großfamilie ist auch in Lateinamerika nicht mehr, das, was sie mal war; besondere Härten gibt es für Frauen z.B. in Kolumbien: Hier kommen aufgrund der Vertreibungen infolge des Krieges oft nur die Mütter mit ihren Kindern in die Städte. In der neuen Umgebung können sie auf keinerlei familiäres oder soziales Netz zurückgreifen.
Auch in punkto Bezahlung sieht es schlecht aus: Erzieherinnen werden in Lateinamerika meist miserabel entlohnt; außerdem gibt es in vielen Ländern für das Personal in Kinderkrippen keinerlei Vorgaben für ihre Qualifizierung, so dass dort Frauen ohne jegliche pädagogische Ausbildung arbeiten.
Wenn in Deutschland in den letzten Jahren vom massiven Ausbau der Betreuungsplätze für die unter Dreijährigen die Rede war, dann sind mitnichten viele neue Kindergärten mit neu angestelltem Personal gebaut worden. Ein hoher Prozentsatz dieser neuen Plätze wird von selbständigen Tagesmüttern abgedeckt, deren Ausbildung in den letzten Jahren nach einheitlichen Maßstäben reguliert worden ist. Entfernt erinnert das Modell der Madres Comunitarias in Kolumbien daran, wobei diese „Gemeindemütter“ noch schlechter bezahlt werden und ihre Klientel beileibe nicht zu den Besserverdienenden gehört.
In vielen Ländern gibt es mittlerweile ein in der Verfassung verbrieftes Recht auf frühkindliche Erziehung, wie es auch in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 niedergeschrieben wurde. Doch Papier ist bekanntlich geduldig. Eine unserer Autorinnen meint am Schluss ihres Beitrags: „Wenn wir an unsere eigene Kindheit denken, können wir sagen, dass es früher noch schlimmer war.“ Ein schwacher Trost. Aber es geht voran, vor allem ohne solche Schnapsideen wie die deutsche „Herdprämie“…