Die überwältigende Mehrheit der LateinamerikanerInnen benutzt öffentliche Verkehrsmittel, um zur Arbeit, zur Schule oder zur Uni zu gelangen, die notwendigen Dinge einzukaufen, die Verwandten in anderen Städten oder Dörfern zu besuchen, zu politischen und kulturellen Treffen zu fahren oder ganz einfach um Ausflüge zu machen.
„Öffentliche Verkehrsmittel“ bedeutet heute in Lateinamerika vor allem Busse. Dies ist aber eine vergleichsweise junge Entwicklung, bis vor wenigen Jahrzehnten war auch in Lateinamerika die Eisenbahn das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel. Nahezu alle Länder hatten gut ausgebaute Schienennetze und funktionierende Eisenbahnsysteme. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man begonnen, diese zu bauen, um den Handel und insbesondere den Export von Rohstoffen ins Ausland zu fördern und das nationale Territorium zu erschließen. Manchmal wurde die Eisenbahn sogar zur Ortsgründerin, wie ein Autor in dieser Ausgabe berichtet. Wo die Eisenbahngesellschaft Bahnhöfe in Argentinien errichtete, entstand über kurz oder lang eine Siedlung. Manche Orte waren nur über die Schiene zu erreichen, Straßenverbindungen gab es dorthin keine.
Als die europäischen und nordamerikanischen Automobilkonzerne in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts begannen, neue Absatzmärkte für ihre Pkw, Busse und Lkw zu suchen, geriet bald auch Lateinamerika in den Focus ihrer Interessen. Da der Verkauf von Fahrzeugen dorthin aber erstmal die Existenz entsprechender Straßennetze erforderte, wurden die lateinamerikanischen Staaten heftig gedrängt, ihre öffentlichen Infrastrukturinvestitionen primär in den Straßenbau zu lenken. In Argentinien und Brasilien versprachen die Automobilkonzerne Fabrikanlagen für den Bau von Personen- und Lastwagen zu errichten, anderen Ländern wurden Kredite und Entwicklungshilfegelder für den Bau von Straßen gewährt. Straßen bedeuteten Fortschritt, hieß es.
Während in Europa auch weiterhin in die Eisenbahn investiert wurde, wurde Lateinamerika mehr und mehr von der technologischen Entwicklung im Schienenpersonenverkehr abgekoppelt. Als hier alle wichtigen Bahnstrecken elektrifiziert wurden, passierte in Lateinamerika nichts Vergleichbares, statt dessen blieb man bei Dampf- und Diesellokomotiven. Als in Europa moderne Schnellzüge im Stundentakt zwischen den großen Städten verkehrten, dauerten die Zugverbindungen zwischen den Städten in Lateinamerika zunehmend länger, weil wegen des veralteten Gleis- und Zugmaterials die Geschwindigkeiten reduziert werden mussten. Und als hier die Hochgeschwindigkeitszüge eingeführt wurden, wurde in mehreren Ländern Lateinamerikas der Personenfernverkehr auf der Schiene ganz eingestellt.
Seit einigen Jahren gibt es erste Anzeichen für ein Umdenken. Wegen der hohen Ölpreise begann man in einigen Ländern, zunächst den Güterverkehr zu reaktivieren, mancherorts sogar auszubauen. Inzwischen gibt es auch neue Pläne für den Personenverkehr; in Argentinien, Brasilien und Venezuela ist sogar von Hochgeschwindigkeitsstrecken die Rede. Um die Geschichte, den Niedergang und die mögliche Renaissance des Eisenbahnverkehrs geht es in einer ganzen Reihe von Beiträgen dieses Schwerpunktes, was vielleicht auch etwas damit zu tun hat, dass Eisenbahnen auf Männer, auch einige in der ila, eine besondere Faszination ausüben.
Aber, wie gesagt, die „öffentlichen Verkehrsmittel“ in Lateinamerika sind heute vor allem Busse, und „öffentlich“ sind sie nur insofern, als sie von vielen Menschen benutzt werden. Während die Eisenbahnen fast alle im öffentlichen Besitz waren bzw. sind, wird der Busverkehr fast vollständig privatwirtschaftlich betrieben. Im innerstädtischen Verkehr vergeben die Behörden in der Regel Lizenzen für bestimmte Linien an die Busunternehmen, im Fernverkehr verkehren teilweise konkurrierende Linien, häufig gibt es aber entsprechende Absprachen bezüglich Preisen und Routen zwischen den verschiedenen Unternehmen. Viele der Probleme, mit denen sich die LateinamerikanerInnen heute herumschlagen müssen, treten auch im öffentlichen Transport zu Tage: Gewalt, Korruption, fehlende Kaufkraft, technologischer Rückstand und manches mehr. Von allem ist in dieser ila die Rede.