Vor einigen Jahren stellte ein Bekannter eine Frage, die politisch inkorrekt anmutete, zumal wir in dem Moment gerade in der Schlange vor dem Jüdischen Museum in Berlin standen: „Worüber definiert sich eigentlich die jüdische Identität? Nur über die Religion? Oder über den Antisemitismus? Dann wäre das doch eine Anti-Identität …“ Daraus entspann sich eine Diskussion über Kultur, Traditionen, religiöse Feierlichkeiten, alten und neuen Antisemitismus. Zu einer überzeugenden abschließenden Antwort kamen wir nicht. Aber das ist ja auch die Krux mit den „Identitäten“. Sie stehen für Selbst- und Fremdzuschreibungen gleichermaßen und sind nicht selten politisch vermintes Feld.
Bei den Recherchen zu unserem aktuellen Schwerpunkt stießen wir auf eine breite Vielfalt an Identitäten, was sich auch bei unseren AutorInnen und InterviewpartnerInnen widerspiegelt: Hier schreiben jüdische und nichtjüdische, kommunistische, libertäre und liberale JournalistInnen, und zwischen der jüngsten und dem ältesten, die zu Wort kommen, liegt locker ein halbes Jahrhundert an Lebensjahren.
Ursprünglich sollte sich der vorliegende Schwerpunkt nur auf den „Anti-Aspekt“ berufen, den Antisemitismus. Anlässe gab es viele: Diskussionen über Venezuela, wo der offen antisemitische „Theoretiker“ Norberto Ceresole eine Zeit lang Beraterfunktionen ausüben konnte; oder der außenpolitische Schmusekurs mit Irans Staatschef Ahmadinedschad; und immer wieder seltsam geschichtsvergessene Aktionen von Teilen der lateinamerikanischen Linken, die zum Haareraufen sind: Solidaritätsbekundungen mit wahlweise dem palästinensischen oder auch dem iranischen „Volk“, die unreflektiert einhergehen mit Schmähattacken auf den Staat Israel und Holocaust-Leugnung. Und stellvertretend für Israels Kriegspolitik werden immer wieder die Juden und Jüdinnen im eigenen Land angegriffen, sei es direkt und körperlich bei öffentlichen jüdischen Feierlichkeiten (so geschehen in Buenos Aires Anfang 2009) oder per Flugblättern, Plakaten, Blog-Einträgen, Sprühereien oder Molotowcocktail-Angriffen auf Kulturzentren (so geschehen im Januar 2009 in Montevideo). Doch antisemitische Ausfälle gibt es auch anderswo, spezifisch lateinamerikanisch sind sie nicht. Die Bedrohung durch und der Kampf gegen Antisemitismus sind durchaus Konstanten in Geschichte und Gegenwart der jüdischen Welt.
Die Beschränkung auf Antisemitismus ist jedoch eine reduzierte Blickweise auf das Leben von Juden und Jüdinnen in Lateinamerika. Wie lässt sich also die jüdische Welt in Lateinamerika porträtieren, wo und wie wird sie wahrgenommen, und was macht sie – aus Sicht jener, die sich mit ihr identifizieren – aus? Bei der Suche stießen wir auf viele spannende und weitgehend unbekannte Geschichten: Seien es die jüdischen Piraten, die in der Kolonialzeit spanische Frachtschiffe überfielen und somit eine Art von später Rache für die Vertreibung aus dem spanischen Königreich 1492 übten, oder der Handel mit jüdischen Prostituierten aus Osteuropa, die sich Anfang des letzten Jahrhunderts – ähnlich wie viele verarmte Frauen aus dem globalen Süden heutzutage – ein besseres Leben in Lateinamerika erhofften. Oder auch die bedeutende Rolle osteuropäischer Juden und Jüdinnen bei der Entstehung der Arbeiterbewegung in Ländern wie Argentinien und Uruguay.
Herausgekommen ist ein umfangreicher Schwerpunkt mit Beiträgen zur Geschichte der jüdischen Einwanderung und zur Aktualität jüdischen Lebens in Lateinamerikas und der Karibik. Wir beleuchten auch das vielfältige Kulturschaffen jüdischer LateinamerikanerInnen. Dabei haben wir unseren Fokus auf Literatur und Film gelegt und auch da können wir nur eine kleine Auswahl vorstellen: Allein die jüdisch-lateinamerikanischen LiteratInnen wären einen eigenen Schwerpunkt wert. Schließlich enthält der Schwerpunkt auch Debattenbeiträge zu schwierigen Fragen: zu Identität(en), zum Verhältnis zu Israel, zu Vergangenheitspolitik und Antisemitismus.
Wir hoffen, dass unsere LeserInnen die Lektüre des Schwerpunkts genauso anregend finden wie wir dessen Erstellung, und dass dadurch vielleicht die eine oder andere konstruktive Diskussion angestoßen wird.