Vom 17. September 2010 bis zum 30. Januar 2011 ist in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle die Ausstellung „Vibración – Moderne Kunst aus Lateinamerika“ zu sehen, die in Europa kaum bekannte abstrakte Bilder, Objekte und Installationen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert. Ein eigener kleiner Schwerpunkt innerhalb der Schau ist drei jüdischen Frauen gewidmet, die auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Argentinien, Brasilien und Venezuela kamen und dort jeweils die Entwicklung der künstlerischen Moderne mitgeprägt haben: die aus Wuppertal stammende Grete Stern, die in Zürich geborene und in Berlin und Mailand aufgewachsene Mira Schendel sowie die Hamburgerin Gertrude Goldschmidt (Gego).
Die Bonner Ausstellung war für uns Anlass, intensiver auf das Leben und Werk der Künstlerinnen einzugehen, die wegen des Terrors der Nationalsozialisten aus Europa fliehen mussten und in Lateinamerika Zuflucht fanden. Bei den Recherchen stießen wir auf weitere Malerinnen, Fotografinnen, Bildhauerinnen, Grafikerinnen und Textilkünstlerinnen, die nach 1933 aus Deutschland, nach 1938 aus Österreich oder nach 1940 aus Frankreich nach Lateinamerika gingen. Teilweise waren sie schon in Europa Künstlerinnen gewesen, andere waren bei ihrer Emigration noch sehr jung und begannen erst in Lateinamerika sich künstlerisch auszudrücken.
In der ila beschäftigen wir uns schon lange mit der Emigration europäischer Juden, Jüdinnen und AntifaschistInnen nach Lateinamerika, hatten bislang aber vor allem die politische und literarische Emigration im Blick. Bei dieser lag es nahe, dass sie auch in Lateinamerika weiterhin ihren Blick nach Europa richteten. Bei den politischen EmigrantInnen, weil sie im Exil ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus fortsetzen wollten, bei den AutorInnen, weil sie an die deutsche Sprache gebunden waren. Zwar hatten viele der politisch-literarischen EmigrantInnen Beziehungen zu lateinamerikanischen Intellektuellen, sie waren aber meist weit davon entfernt, Teil des kulturellen Lebens ihres Exillandes zu werden.
Bei unserer Beschäftigung mit den bildenden Künstlerinnen stellten wir nun fest, dass das bei ihnen ganz anders aussah. Sprache hat für ihre künstlerische Artikulation längst nicht die Bedeutung wie für die LiteratInnen. Einige Malerinnen und Fotografinnen gingen bereits wenige Jahre nach ihrer Ankunft in Lateinamerika mit Ausstellungen an die Öffentlichkeit, konnten also ihre Arbeiten einem interessierten Publikum in den Asylländern präsentieren. Dagegen war die in Mexiko, Argentinien oder Brasilien entstandene Exilliteratur – mit ganz wenigen Ausnahmen, wie einigen übersetzte Titeln von Anna Seghers oder Texten von AutorInnen, die einen Sprachwechsel vollzogen – nie einem größeren Publikum dort zugänglich, weil sie nicht in Spanisch bzw. Portugiesisch vorliegt.
Die in Lateinamerika entstandenen Arbeiten bildender Künstler und Künstlerinnen aus Europa wurden dagegen von Beginn an von der interessierten Kunstszene zur Kenntnis genommen. Bei lateinamerikanischen Intellektuellen bestand teilweise ein großes Interesse an den neuen Entwicklungen der europäischen Moderne. Emigrierte bildende Künstler und Künstlerinnen hatten dadurch die Gelegenheit, in einen ästhetischen Dialog mit ihren lateinamerikanischen KollegInnen zu treten, sich in die nationalen Kunstszenen einzubringen und sogar zu integrieren.
Wir möchten unsere LeserInnen mit dieser Ausgabe zu einer Entdeckungsreise zu den Frauen einladen, die den Nazis entkamen und in den vergangenen sechs Jahrzehnten mit ihren Arbeiten die Kunst Lateinamerikas bereichert haben. Dass man dabei einiges nicht auf Anhieb versteht und manchmal auch ins Staunen kommt, liegt in der Natur der Sache. Sonst bräuchte man eine Entdeckungsreise gar nicht erst anzutreten!