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Was für ein Abstimmungssonntag! Die SchweizerInnen stimmten für die völkerrechtswidrige Verschärfung ihres Ausländerrechts, in Ägypten und der Elfenbeinküste fanden Parlaments- bzw. Präsidentschaftswahlen statt, die von Unregelmäßigkeiten und Unruhen begleitet waren. Und dann Haiti. Der „versagende Staat“, das „Armenhaus“ oder gar „Totenhaus“ etc. Extreme Ereignisse fordern extreme Bezeichnungen, abgesehen davon, dass die failed state-Argumentation stets politisch-militärische Einmischung und Bevormundung mit sich bringt. Die Präsidentschaftswahlen in Haiti am 28. November 2010 fanden unter Bedingungen statt, die ungünstiger nicht hätten sein können: eine Seuche, die es seit 100 Jahren auf der Insel nicht gegeben und jetzt schon über 1700 Menschen das Leben gekostet hat. Gewalt, Einschüchterungsversuche, gestohlene bzw. schon gefüllte Wahlurnen und Probleme mit dem Wahlregister, in denen sowohl zu viele (bereits gestorbene) als auch zu wenige WählerInnen registriert waren.

Unabhängig davon, dass Haiti dieses Jahr zum Dauerbrennerthema werden würde, hatten wir schon seit einiger Zeit vorgehabt, ein Schwerpunktheft zu diesem Land zu machen. Denn dieses „Stehaufmännchenland“, wie es DJ Haitian Star, einer unserer Interviewpartner ausdrückt, ist im Hinblick auf seine Geschichte und seinen kulturellen Reichtum eine echte Fundgrube. „Haiti war immer so interessant, weil das Land eine extrem ausgeprägte kulturelle Identität hat“, meint DJ Haitian Star, „Literatur, Musik, Kunst – in der ganzen Karibik bedienen sich die Leute der haitianischen Kultur.“
In der Hinsicht passt es ganz gut, dass ausgerechnet ein Popstar bei den kontroversen Präsidentschaftswahlen voraussichtlich die meisten Stimmen eingesackt hat: Michel „Sweet Mickey“ Martelly, der „böse Bube“ des Compas, der meistgespielten Musikrichtung des Landes. Es ist noch gar nicht so lange her, da kokettierte Martelly damit, dass ihm vieles ziemlich egal sei und dass er über Politik nicht viel wisse; nun möchte er sich staatsmännisch gewandet um das geschundene haitianische Volk kümmern. In der ila 275 haben wir 2004 ein Porträt der „Rampensau“ Martelly gebracht, in dem er viele lustig-frivole Sprüche klopfte: „Ich bin immer für das Publikum da, mache Krach für die Leute, sehe gut aus, bin sexy für sie. Ich bin ihre Schlampe.“ Offen gab er zu, dass er freundschaftliche Beziehungen zu paramilitärischen Ex-Offizieren habe, spielte dies gleichzeitig hinunter und meinte versöhnlich: „Ich rede schlecht und tue Gutes.“

Etwa 70 Prozent der haitianischen Bevölkerung lebt auf dem Land, da klingt es fast schon anbiedernd, dass sich Sweet Mickeys Partei Reponse Paysan („Bäuerliche Antwort“) nennt. Antworten für die Organisierung ihres Alltags haben die HaitianerInnen auf dem Land jedoch schon vor langer Zeit selbst gefunden: die Tradition der Coumbite, der gegenseitigen Hilfe und kollektiven Landarbeit hat sich trotz aller Politik- und Umweltkatastrophen halten können. Dass die Organisationen und Strukturen auf dem Land noch ganz gut funktionieren, zeigten auch die prompten und wütenden Reaktionen, als der Saatgut-Multi Monsanto im Mai dieses Jahres eine zweifelhafte Saatguthilfe ankündigte: Gegen das unerwünschte Geschenk von genmanipuliertem Hybrid-Samen gingen Tausende von Kleinbauern auf die Straße.

Auch in den 1300 nach dem Erdbeben entstandenen Übergangscamps gibt es Camp-Komitees, die den Alltag und die Verteilung der Hilfeleistungen zu regeln versuchen. Teils sind dies Komitees, die von den jeweils „zuständigen“ NRO eingesetzt worden sind, teils sind es mafiöse Strukturen, die den Camp-BewohnerInnen selbst für die Toilettenbenutzung Geld abpressen; viele Komitees sind jedoch nach dem Erdbeben quasi organisch aus der Notwendigkeit der gegenseitigen Hilfe entstanden und stellen eine echte Selbstorganisierung dar. Auch haitianische Gewerkschaften engagieren sich an der Basis. Sie haben Brigaden gebildet, um gegen die Ausbreitung der Cholera-Epidemie zu kämpfen.

Jenseits des ganzen apokalyptischen Geredes über das Land, das angeblich von einem „Fluch“ heimgesucht wurde, gibt es also eine ganze Menge über Haiti zu berichten. Unser ganz besonderer Dank geht dieses Mal an unseren Haitikorrespondenten Hans-Ulrich Dillmann, an Klaus Jetz, an Ulrich Mercker sowie an die Macher der Collage Haitian Fight Song, Christian Frings, Felix Klopotek, Malte Meyer und Peter Scheiffele, die zum vorliegenden Schwerpunkt zahlreiche Ideen und Artikel beigetragen haben.