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Kunstwerke im öffentlichen Raum sind Geschenke an die Stadt und ihre BewohnerInnen. HausbesitzerInnen sind mitunter nicht besonders erpicht darauf und sehen ihr Eigentum beschädigt, andere empfinden das, was auf Wände, Fassaden oder Gehwege gemalt, gesprüht oder geklebt worden ist, als Provokation. Auf jeden Fall schafft Straßenkunst Bewusstsein, gibt Anstöße zum Nachdenken und verändert die Ästhetik der Stadt. Überall kann diese Kunst auftauchen und dich überrumpeln. Und morgen ist das Stencil, das Schablonenbild, über das du vielleicht gestern noch geschmunzelt hast, wieder weg, die Wand ist neu gestrichen worden. Und selbst wenn es nicht übermalt worden wäre, dann wäre dennoch nicht sicher gewesen, ob das Bild in der Form Bestand gehabt hätte – vielleicht hätte jemand etwas hinzugefügt? Straßenkunst bietet nämlich die Möglichkeit zur Partizipation, wer will, kann im interaktiven Spiel mitmischen. Vielleicht ist das Stencil aber auch nicht mehr da, weil der Regen es weggewaschen hat.

Für die Ewigkeit gemacht sind solche künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum auf jeden Fall nicht. Sie sind temporär und absolut zeitgeistig – der/die KünstlerIn hat ein direktes Mitteilungsbedürfnis und setzt es unmittelbar um. Mangelnde Ressourcen, wie z.B. fehlende Flächen oder Ausstellungsmöglichkeiten, spielen hier keine Rolle, der Raum wird sich einfach angeeignet. In der Regel sind in unseren kapitalistischen Gesellschaften Wände und Fassaden mit Werbebotschaften und fiktiven Bildern aus einer schönen heilen Konsumwelt übersät, da bietet Street Art – so der gängige internationale Terminus – einen wohltuenden Gegenpol, der näher an der Realität dran ist.

Tatsächlich sind viele dieser KünstlerInnen kritisch gegenüber Kapitalismus und Konsum eingestellt und setzen ihre Werke manchmal ein, um Werbung umzugestalten, oder sie spielen mit den Stilmitteln der Werbung und stellen sie damit gleichzeitig in Frage. Dass sich in Städten wie Berlin, Buenos Aires oder Rio de Janeiro ein unglaubliches Potenzial an Kreativität, Ideen, Humor und kritischem Geist Bahn bricht, haben mittlerweile auch schon Werbe- und PR-StrategInnen sowie der Kunstmarkt bemerkt. Street-Art- Ausstellungen in Galerien oder öffentlichen Institutionen sind seit einigen Jahren schon keine Besonderheit mehr. Allerdings begeben sich nicht alle bereitwillig in den offiziellen und/oder kommerziellen Bereich, denn würde damit nicht DAS wesentliche Merkmal dieser Kunst, nämlich die Straße aufgegeben? Die Straße ist ein hartes Pflaster, da die Kunst nicht geschützt ist wie in Museen oder Galerien. Und das Publikum ist auch nicht einfach.

Viele Menschen gehen normalerweise niemals ins Museum. Street-Art bietet ihnen die Möglichkeit zur Begegnung mit der Kunst. Ganz niederschwellig und kostenfrei. Beim Theater auf der Straße, oder auch bei der Jonglage, Artistik oder Musik im öffentlichen Raum, verhält sich dies ganz ähnlich: Das Publikum, das sich in der Regel kaum Theater- oder Zirkusaufführungen ansieht, muss bei der Stange gehalten werden, sonst ist es weg. Andererseits bekommen die Leute interessante, atemberaubende oder berührende Spektakel geboten, und zwar (fast) umsonst, freiwillige Spenden erhoffen sich natürlich alle, die auf der Straße Kunst machen.

In unserem Juni-Schwerpunkt haben wir uns der vielfältigen Welt der Straßenkunst in Lateinamerika angenähert und dabei unseren Fokus auf die inoffiziellen Kunstformen im öffentlichen Raum gelegt, schließlich werden diesbezüglich auch die spannenderen Debatten geführt: um die Demokratisierung des Zugangs zur Kunst, um das Spannungsverhältnis zwischen Subversion und Kommerzialisierung, um Symbole und Repräsentation. Einzig das Poesie-Festival von Medellín, das wir in der Ausgabe ebenso vorstellen, ist auch offiziell legitimiert und wurde im Jahr 2006 sogar mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet! Eine ziemlich einzigartige Veranstaltung also, die wir unseren LeserInnen nicht vorenthalten wollen. Die Straße als Lesesaal, die Straße als Galerie, die Straße als Bühne – hereinspaziert und viel Vergnügen!